Waltraut Schдlike

 

Berliner Ferien oder Ein Herz und zwei Lдnder

 

 

Wohin sie auch immer gefahren war, auf den Kolchos zum Ernteeinsatz oder, so wie jetzt, wo ihr  die Reise nach Berlin bevorstand, niemals hatte sie es Ilja erlaubt, sie zur Abfahrt zu begleiten oder sie von einer Reise abzuholen. Sie wollte es  vermeiden, dass jemand auf dem Bahnhof zufдllig Augenzeuge ihrer gegenseitigen Liebe wurde. Sie hьtete diese vor fremden Blicken, aber nicht deshalb, weil sie um ihren Verlust bangte. Das ьberhaupt nicht. Sie glaubte, nein, sie war davon ьberzeugt, dass es so etwas in sich Ruhendes, Zдrtliches, von Vertrauen erfьlltes wie in ihrer Liebe noch niemals zwischen zwei Menschen gegeben hatte.

Wie bemitleidenswert fand sie solche Dichter wie Heine oder Majakowski, die sich mit Zweifeln rangen und die Qualen ihres Herzens in Verse gossen. Keine einzige Trдne hatte sie je wegen Ilja vergossen, kein einziges Mal durchzog ihr Herz auch der geringste Schmerz. So mдrchenhaft glьcklich stellte sich ihr die Liebe dar.

Ilja verstand  sie in Allem. Ihr ganzes 19 Jahre wдhrendes Leben hatte sie vor Ilja ausgebreitet wie eine Beichte, wenn sie, gewдrmt durch seinen Kцrper, umkost von seinen lieben Hдnden neben ihm lag, ihrem ersten Mann. Und das geschah auf einem schmalen Diwan in einem winzigen Zimmer  im Wohnheim der Komintern, in das man nur mit einem Passierschein gelangte und das er gemдя der Hausordnung jeden Abend vor Mitternacht zu verlassen hatte.

Und wenn sie mal die Zeit vergessen hatten, rief die Diensthabende des Hotel ДLuxУ an und verlangte, dass der Gast unverzьglich den bei ihr hinterlegten Pass zu empfangen und das Haus zu verlassen hдtte. Dann kehrte Ilja in der Dunkelheit zu seiner Mutter zurьck, wдhrend sie sich glьckselig unter die Decke kuschelte und in tiefen Schlaf versank.

Niemand sollte von ihrer Zдrtlichkeit das Geringste ahnen, damit kein Trцpfchen Gift, kein Kцrnchen Schmutz in die glasklare Quelle ihrer gegenseitigen Liebe fiele. So wollte sie es und er wollte es auch.

 

Ilja war Frontsoldat, den eine nicht heilende Verwundung am Bein fast ein Jahr ans Krankenbett gefesselt hatte. Und dort, im Halbdunkel des Krankenzimmers, umgeben vom scheinbar einmьtigen, aber wohl vorgetдuschten Schnarchen seiner in Frauenangelegenheiten erfahreneren Leidensgefдhrten, wurde er, der 19-jдhrige Leutnant und vor dem Krieg Erstsemestler an der Historischen Fakultдt, zum Mann.

ДWarte, ich nehme ein KondomУ, lieя sich die nicht mehr ganz junge Krankenschwester leise vernehmen. Mit Geschick half sie dem errцteten Jungen, mit der einfachen, fьr sie gewohnten und Spaя bereitenden Angelegenheit zurechtzukommen.

Ilja empfand kein Gefьhl der Dankbarkeit gegenьber seiner ersten Frau. Vielmehr schien ihm  dieser Vorgang als schmutzig, aber gegen seinen Willen dabei auch als eine Mischung eines flьchtigen Augenblicksgenusses und einer wunderlichen Erlцsung, die dem Kцrper eine Entspanntheit  verlieh. Natьrlich war das keine Liebe. Aber es war auch kein Spiel in einem Flirt. Weder durch sie noch durch ihn.

Bis zu jener Nacht hatte Ilja nicht auf die sympathisch wirkende, aus der ersten Jugend bereits entlassene Schwester geachtet, die das Krankenzimmer betrat, um dem bettlдgerigen Patienten die verordnete Spritze zu geben. Ilja hatte auch nicht im

geringsten Anlass fьr das dann Geschehene gegeben. Aber aus irgendwelchen Grьnden wehrte er sich auch nicht dagegen.  Ja, es wunderte ihn selbst, wie unbedacht  und unerwartet er sein eisernes Prinzip ДKьsse nicht, ohne Liebe" plцtzlich aufgab. Denn daran hatte er sich all seine Monate an der Front standhaft gehalten. Im Hinterland und an der Front waren ihm damals  genьgend junge Mдdchen  im Soldatenrock begegnet, und es wдre falsch zu behaupten, dass sie ihn nun absolut gleichgьltig gelassen hдtten. Aber er hatte sich im Griff. Er hatte selbst damals der Versuchung nicht nachgegeben, als in einer Nacht vor einem bevorstehenden Angriff ein Mдdchen im Schein einer trьben Funzel den danebensitzenden Burschen bekannte: ДWenn ich nur sicher wдre, dass man ьber mich nachher nicht lachen wuerde, wьrde ich mich jetzt jemandem hingeben.У Ilja begriff, dass das Mдdchen seine Angst bekдmpfen und nicht sterben wollte, ohne das Glьck mit einem Mann genossen zu haben. Aber niemand, auch Ilja nicht, bemitleidete sie. Seine eigene Sauberkeit war ihm heilig.

Aber hier, nicht mal an der Front vor einem Gefecht, sondern in einem schwьlen Krankenzimmer, erlaubte er sich alles.

Ein Gefьhl der Verlegenheit und irgendeiner inneren  Zerrissenheit hinderten Itja diese unerwartete Freude innig zu genieяen. So war es auch in den folgenden Nдchten, als seine Erst-Frau erneut zu ihm kam, um gegenseitige Wonnen zu teilen.

In seinen Briefen aus dem Hospital an die ДLiebe MutterУ und den ДLieben VaterУ gab Ilja, begeistert von den Siegesmeldungen an der Front, in Gedanken den Дteuflischen Fritzen ZunderУ und gewдhrte ihnen groяmьtig Дzwei Arschin Boden in der Lдnge und zwei Meter in der TiefeУ (1 Arschin etwa 71 cm. d.№bers.), und klagte darьber, dass der Krieg die Mдdchen verdьrbe und es keine "reine Maedchen" mehr gaebe, mindestens in seiner nahen Umgebung..

 

Ilja wollte sich von dem Schmutz befreien,  er wollte mit dem drьckenden Gefьhl, das ihn im  Krankenhaus ьberwдltigt hatte, fertig werden, und Д einem  richtigen MдdchenУ, das der wahren Liebe wьrdig ist, begegnen.

Als sie damals beide an ein und derselben Fakultдt ihr Studium begannen, hatte auch sie bereits ein persцnliches Drama hinter sich, und das war fьr  sie, eine 17-Jдhrige, wie es ihr schien, ein fьrchterliches Drama. Denn sie mas die Grцяe des Erlebten nach der Grцяe  ihres Schmerzen, der sich in ihrem Herzen als nagender №berbleibsel der Enttдuschung festgesetzt hatte.

 

Damals war sie 15 und es war in der Zeit der Evakuierung, als sich im Internat der Komintern ein 16-jдhriger zwar nicht hьbscher, aber kluger Junge in sie verliebt hatte. Er half ihr intensiv beim Studium des Statuts der Komsomolorganisation.  Das wichtigste war aber, dass er zu ihr hielt, als man sie, eine Pionierin, die davon trдumte, Komsomolzin zu werden, plцtzlich verdдchtigte, dass sie, die  schlieяlich eine Deutsche war, heimlich vom Sieg der Deutschen in diesem verfluchten Krieg trдumen wьrde. Man hatte sie sogar zu ьberreden versucht, dass sie jemandem diese ungeheuerliche Lьge selbst aufgetischt habe. Zwei Zeugen hдtten es der Internatsleiterin eilfertig hinterbracht. So wurde sie zum ДVerhцrУ gerufen.

Danach flossen ihre Trдnen, sie weinte laut und hemmungslos angesichts dieser Anschuldigung einsam im Mдdchenschlafsaal. Und da war dann der gar nicht so attraktive Junge bei ihr, um sie zu trцsten, ihr zu sagen, dass er ihr glaubt und er der Leiterin zum Trotz fьr sie die Empfehlung zur Aufnahme in den Komsomol abgeben wird. Zumal sie das Statut schon gut kennt. Noch ganz unter Trдnen erblickte sie

jetzt seine sehr gьtigen Augen, die groя und dunkelblau waren und seine langen Wimpern, schwarz und flaumig. Und das erste Mal in ihrem Leben lieя sie es zu, dass sie ein Jungen umarmte, einfach so zum Trцsten.

Seitdem gingen sie ьberallhin gemeinsam: sowohl zum Wasser holen, das in Aluminiumkannen zu 20 Litern in die Kьche gebracht werden musste, als auch in den Schweinestall, um die Ferkel zu fьttern, fьr die das Mдdchen verantwortlich war, und in die Schule. Das war ein sieben Kilometer langer Weg durch einen dichten Wald und einen  zugefrorenen Fluss,  wo das Eis so geheimnisvoll unter den Fьяen knackte.

Und es blieb zwischen ihnen nichts Unausgesprochenes. Er sprach ihr ьber seine Liebe zu ihr, sie ьber ihre Gefьhlsschwankungen ihm gegenьber.  Manchmal schien es ihr, dass sie sich auch in ihn verliebt hatte - dann   schmiegte sie sich  zдrtlich an seine Brust, und gestattete seinen Hдnden, dass sie sie ganz fest umarmten. Sie glдttete liebevoll seine pechschwarzen Haare, die borstig wie Draht und doch auch lockig waren.

Aber dann, nach einigen Tagen, als Zweifel an der Kraft der eigenen Gefьhle aufkamen und das beherrschende Postulat ДKьsse nicht ohne LiebeУ die Oberhand gewann, an das sie mit ihren 15 Jahren ebenso heilig glaubte, erцffnete sie ihrem verblьfften Gefдhrten, dass sie wohl besser nur Freunde sein und sich nicht mehr umarmen sollten.  Aber dann standen die beiden Heimatlosen, erfьllt von Sehnsucht nach Wдrme und Geborgenheit erneut zusammen und schmiegten sich aneinander irgendwo in einem dunklen Abstellraum des an Nebengelassen ьppig ausgestalteten Bauernhofes, wo die дlteren Internatsbewohner  untergebracht waren. Aus irgendeinem Grunde ging sein Atem plцtzlich schwer. Ihr, dem Mдdchen, wurde unheimlich zumute. Seine Hдnde, die ihre Schultern fest umschlossen, empfand sie dann als gefдhrlich und unangenehm. Sie war sich ьberhaupt nicht sicher, dass sie es gestatten sollte. Nein, nicht ums Kьssen ging es. Das erwartete auch er nicht von ihr. Es ging um seine zitternden, krдftigen Hдnde, die sie vollends umfassten und sie lange, sehr lange nicht freigaben, so dass es schien, als seien sie zu einem unverrьckbaren Standbild zusammengefroren. Aus moralischen Bedenken (sie sei ja nur 15 !) heraus erwuchs in ihr seinetwegen eine Schwermut und Traurigkeit, die die Freude und Einfachheit ihres Umganges miteinander entzog. Und auch das schilderte sie ihm Ц aus Freundschaft.

Schlieяlich war er ihrer ewigen Gemьtsschwankungen und seiner eigenen monatelangen Qualen ьberdrьssig. Um eine Kluft aufzureiяen, folgte er dem Rat seines besten Internatsfreundes Sergej, und verliebte sich Knall und Fall innerhalb einer Woche in ein anderes Mдdchen. Sicherlich keine solche Schцnheit, aber dafьr nicht so kompliziert. Und nun umarmte und kьsste er sie immer dann, wenn ihm danach zumute war, ohne diese ewigen Gefьhlsanalysen.

Damals hatte sie das alles ьberhaupt nicht verstanden. Aber ДaufgeklдrtУ von erwachsenen Frauen, die sich wie Fliegen vom Fдulnisgeruch angezogen fьhlten, ДerfuhrУ sie, dass ДJungen nur dies Eine brauchenУ, dass sie richtig gehandelt hatte, nicht alles zu gestatten und dass Дalle Mдnner so seienУ und es sich nicht lohne, Дwegen eines solchen SchurkenУ Trдnen zu vergieяen.

Und trotzdem weinte sie, wenn mal kein Mдdchen im Zimmer war. Sie weinte aus

ehnsucht nach seinen Hдnden, sie wollte seine widerspenstigen Haare in ihren Handflдchen spьren, wollte an die Liebe im Allgemeinen und speziell fьr sich glauben. Doch alles war ihr genommen. Und durch wen? Durch einen gar nicht mal

 

hьbschen Jungen, an dessen Gefьhlstiefe sie nicht einen Lidschlag gezweifelt hatte, im Gegenteil  zu ihren eigenen.

Sind in Wirklichkeit alle Mдnner Betrьger? Und ist es ihr Vater etwa auch?

Die Seele war verletzt. Da war die Furcht, erneut nicht verstanden und  verlassen zu werden. Und da war die Angst, dass sie auch kьnftig absolut ьberflьssig sei als Mensch, begehrt aber nur  als Mдdchen. Das war ihr aber zu wenig, so wollte sie kьnftig weder lieben, noch befreundet sein! Mit Niemandem!

Und wдhrend der letzten beiden Schuljahre hielt sie sich daran. Das war nicht schwer, zumal die Schulen in Moskau, wohin sie aus dem Internat zurьckkehrte, in jenen Jahren separat waren und ihre Klasse nur aus Mдdchen bestand.

 

Und so begegneten sie sich beide, Ilja und sie, im ersten Semester der Historischen Fakultдt: Sie eine 17-jдhrige Schulabgдngerin und er ein 20-jдhriger Invalide von der Front, stark hinkend und auf einen Stock gestьtzt. Und beide  mit Angst in der Seele vor Schmutz und Enttдuschung in der Liebe.

Sie hatten einander fast gleichzeitig bemerkt.

Er hatte in einem Streit wдhrend einer Pause einen Schock bekommen, als die Studenten darьber diskutierten, warum die Deutschen Sadisten seien. Die eine Seite meinte, es lдge denen im Blut, die andere fьhrten den Sadismus auf Besonderheiten in der deutschen Erziehung zurьck. Und da warf plцtzlich ein hьbsches Mдdchen mit hochgesteckten blond gelockten Haaren aus der schweigenden Umgebung der Diskutierenden  mit Stolz nur den einen Satz ins Getцse der erhitzten Gemьter: Д№brigens, ich bin eine Deutsche!У, und entfernte sich langsam und erhaben im Stil Katharinas der Groяen.

Sieh an, eine Deutsche an der FakultдtЕ

Und dann rief ihn die Sekretдrin der Parteiorganisation der Fakultдt zu sich. Sie war eine strenge, mдnnlich-gebieterische Frau mit einer Kurzhaar-Frisur im Komsomol-Stil der 20-er Jahre. Sie machte Ilja darauf aufmerksam, dass im ersten Semester eine Deutsche studiert. Ihm als Kandidaten der Partei werde der Parteiauftrag erteilt, auf die ideologische Position dieser Kommilitonin zu achten.

Ilja befolgte der Parteiauftrag undЕverliebte sich in die offene, eigensinnige Tochter deutscher Politemigranten, wie er schon in Erfahrung zu bringen vermochte. So lautet dann auch die Eintragung in sein Tagebuch, das bisher nur Aufzeichnungen von der Front enthalten hatte: Д Ich habe mich hier in eine kleine Deutsche verliebt.У Er ahnte dabei noch nicht, was mit diesem ДVerliebenУ alles auf ihn nun zukommen wьrde.

 

Und auch sie hatte ihn fast unvermittelt bemerkt. Ein nicht sehr groяer schlanker Frontkдmpfer mit einem Stock. Er war der Einzige im gesamten Kursus, der die Aufnahmeprьfung mit ДausgezeichnetУ bestanden hatte. Seine Unterlagen ьber die Aufnahme in die Historische Fakultдt aus der Vorkriegszeit waren im Archiv des liquidierten Instituts verloren gegangen und so hatte er zielstrebig seine Aufnahmeprьfung von Anfang an wiederholt und war nochmals ins erste Semester eingestiegen. Eine solche Haltung hatte ihr imponiert Ц die Fдhigkeit, das Schicksal zu akzeptieren und die Flinte nicht ins Korn zu werfen. Sie selbst war als ausgezeichnete Schulabsolventin ohne Prьfung aufgenommen worden. Aber sie war bei weitem nicht davon ьberzeugt, dass sie solche Ergebnisse erzielt hдtte wie Ilja. Er war ein Unikum. Wie umfangreich sein Wissen war! Wie viele Bьcher er gelesen

hatte! Bei jedem Disput war seine laute, ьberzeugende Stimme zu hцren, ein jedes Thema begeisterte und entbrannte ihn. Einen zweiten dieser Art gab es im ganzen Semester nicht. Und es schmeichelte ihr, dass der interessanteste Kommilitone des Semesters allen Anscheins nach gerade ihr eine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Und dass es ihm nicht egal ist, worьber sie spricht, was sie denkt und fьhlt. Aber verlieben wollte sie sich nicht. Die Enttдuschung aus dem Internat war noch nicht ьberwunden.  Und auяerdem sollte ihre Familie nach Kriegsende nach Deutschland zurьckkehren. Sie war auch bereit, ihre Pflicht gegenьber ihrem Geburtsland zu erfьllen. Sie wollte helfen, es vom Faschismus zu reinigen.  Und jetzt sich zu verlieben bedeutet nur eins Ц sich das Leben  zu erschweren.

Und trotz alledem verliebte sie sich doch alsbald in den sanften, aufmerksamen, feinfьhligen und klugen Ilja. Sie kam einfach nicht umhin. Er war ьberhaupt nicht dem unansehnlichen Jungen aus dem Internat дhnlich, der sie so schmerzhaft durch Betrug und ein Spiel verletzte, das sie fьr Liebe gehalten hatte.

Eines Tages berichtete sie Ilja von ihrer ersten Liebe. Wie aufmerksam er ihr damals zugehцrt hatte! Wie hasste er diesen Betrьger, der auf ihre Gefьhle pfiff!

Nein, Ilja sah in ihr zuerst den schдtzenswerten Menschen und erst danach auch das Mдdchen. Er schдtzte diesen sehr klugen und talentierten Menschen, der natьrlich manchmal auch widersprьchlich und grьblerisch war. Und dabei war sie sogar noch ein sehr hьbsches Mдdchen. Aber fьr ihn war das nicht die Hauptsache. Nun, wenn aber alles wieder so verlдuft, wie im Hospital, dann ist es aus mit ihm.. Er hat auf dieser Welt schon zuviel Schmutz gesehen. Das reicht! Sie aber ist in ihrer Schьchternheit noch ein richtiges Mдdchen. Er wird sie nie beleidigen und dies auch niemandem erlauben. Und er wird warten, bis sie von selbst sich einen Kuss einfordert! Ja, von selbst!

Ihre beiderseitige Liebe entwickelte sich im Gegensatz, als Trotz zu dem, was beide schon  erlebt hatten, bevor sie einander kennen lernten. Das war eine Richtung, ein gemeinsamer Weg, ohne Leidenschaft und ohne verrьckter Sehnsucht, den sie aber beide selbst gewдhlt hatten. Und gegrьndet auf Vertrauen und Zдrtlichkeit, kamen sie sich eines Tages nдher.

Ilja war glьcklich. Und sie, die sie seine Kьsse nicht nur auf ihren Lippen, sondern auch auf den Hals, selbst  Brust und Bauch zulieя,  konnte sich spдter nicht mehr an die Gefьhle der ersten Nacht oder besser des Abends, als die Brьder schon  fest eingeschlafen waren und die Mutter noch auf der Nachtschicht arbeitete, erinnern. Frьhmorgens stand sie dann vor dem Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Sie suchte nach Verдnderungen, schlieяlich war sie jetzt eine Frau. Aber nichts hatte sich verдndert, stellte sie verwundert im Spiegel fest. №berhaupt nichts!

Wie vordem sahen sie sich tagsьber bei den Vorlesungen; einfach zwei Studenten der Moskauer Staatlichen Universitдt. In den Pausen debattierten sie leidenschaftlich mit ihren Kommilitonen und beide waren temperamentvolle Diskutierer. Und dann, nachdem ihre Mutter mit den Brьdern nach Deutschland abreiste, gingen sie gemeinsam in die Kantine, um das dьrftige Mahl zu verschlingen: Frikadellen aus gesalzenen Sprotten mit Salat aus grьnen Tomaten. Studierten dann bis zur letzten Minute im Lesesaal fьrs nдchste Seminar, gingen anschlieяend zur ihr nach Hause ins ДLuxУ, welches er punkt Mitternacht verlassen musste. Ihre Kommilitonen wussten: Ilja und sie sind Freunde, unzertrennliche zwar, aber auch nicht mehr. Ihre Liebe verheimlichten sie dermaяen, dass Ilja sich nicht einmal wagte, seine Liebste an die Hand zu nehmen, wenn sie die Gorkistraяe entlang zu ihr gingen und leidenschaftlich ьber Mach und Avenarius (zwei Vertreter des Empiriokritizismus im 18. Jh., d.№bers. ) debattierten.

Sie war seine Frau, aber niemand hatte das Recht, das zu wissen.

Nochmals hatte sie Ilja darum gebeten, sie nicht zum  Bahnhof zu begleiten, als schlieяlich  der Tag ihrer Abreise nach Berlin kam, wohin sie, nun schon Studentin im fьnften Semester, mit Erlaubnis zum Besuch zu ihren Eltern fuhr. Ein Jahr war bereits vergangen, als der Vater  gleich im Mai 1945 nach Hause zurьckkehrte und einige Monate war  es bereits her, das sie die Mutter und Brьder nicht mehr gesehen hatte, die ein Jahr danach dem Vater nach Berlin gefolgt waren. Sie war in Moskau geblieben und wollte zunдchst die Historische Fakultдt beenden. Die Mutter hatte natьrlich bis zum Moment ihrer Abreise nicht geahnt, dass die Tochter nicht beabsichtigte, mit ihnen nach Deutschland zurьckzukehren und so hдndigte sie auch der 19-Jдhrigen wie selbstverstдndlich die auf ihren Namen ausgestellten Papiere aus.

Und jetzt nun, wдhrend der Semesterferien, wollte die Tochter Berlin besuchen, spontan, abenteuerlich mit Dokumenten, die fьr die endgьltige Ausreise ausgestellt worden waren. Diese Papiere nahm sie nicht ernst. Sie war ganz sicher, dass sie natьrlich nach zwei Monaten  nach Moskau zurьckkehren wird und setzte auf ihr Glьck.

Und so begleitete Ilja sie nicht zum Bahnhof.

Er wusste ja auch, dass sie zurьckkommen will und zweifelte nicht an ihr. Aber im Gegensatz zu ihr, die sie ja noch ein Mдdchen war, konnte er, der 22-jдhrige Frontkдmpfer, nicht auf irgendein Schicksalsglьck setzen. Er begriff durchaus, dass sie auch nicht zurьckkommen kцnnte, dass man ihr auch nicht erlauben kцnnte zu ihm zurьckzufahren, zumal er zu ihr in keinem offiziellen Verhдltnis stand.

Sie fuhr nach Berlin mit einer Gruppe zurьckkehrenden deutschen Politemigranten. Eigentlich war sie ja auch eine solche, obwohl sie damals als Vierjдhrige mit den Eltern Deutschland verlassen hatte. Und deshalb  kann es ohne weiteres passieren, dass die verschiedenen Behцrden fьr sie keinen Ausnahmegrund sehen, um sie etwa zurьckkehren zu lassen. Und dann laest man sie, sein allerliebstes  Mдdelein, das zu lieben sein grцяtes Glьck war,  in Deutschland.

Ilja war von der Angst um den mцglichen Verlust tief ergriffen.  Die Angst hatte sich in ihm eingenistet, aber er hatte sie sorgsam verborgen angesichts dessen, dass er sah, wie sehr sie sich auf die Begegnung mit ihrer Familie freute. Diese Freude wollte er nicht trьben und so bekдmpfte er seine Furcht, er kцnne sie jetzt zum letzten Male sehen.

Er respektierte ihre Bitte und begleitete sie nicht zum Bahnhof. Nur bis zur Haltestelle des Trolleybusses trug er ihren kleinen Koffer und sah ihr lange nach mit seinen groяen, dunklen, kastanienbraunen Augen, die voller Liebe und Leiden waren. Schweigend ertrug Ilja sein Leid, was sein Volk ihn  Jahrhunderte hindurch gelehrt hatte Ц diese geduldigen, weisen Juden, die auf der ganzen Welt umhergetrieben werden.

****

 

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss gesagt werden, dass sie nur fьr einen kurzen Augenblick im Geiste diese guten Augen Iljas vor sich sah, sie hatte dazu gar keine Zeit, denn sie tauchte sofort in den Trubel der Eisenbarfahrt unter.

 

Nach Berlin fuhr sie mit drei deutschen Kommunisten, die zurьckkehrten. Der eine war schwach und blind, der andere hatte infolge einer Verletzung in Spanien keinen Magen mehr. Die Frau als Dritte war zwar alt, aber krдftig und zдh. Eine alte Adlige, die in ihrer Jugend in die Revolution gestiegen war.

Die 19-Jдhrige sah es als ihre Pflicht an, sich um ihre Reisegefдhrten zu kьmmern. Sie richtete dem Blinden das Bett, holte an den Stationen heiяes Wasser und deckte den Tisch. Fьr sie waren sowohl die Mitreisenden interessant als auch alles, was durch das Fenster zu sehen war.  Sie hatte wirklich gar keine Zeit sich nach Ilja zu sehnen.

 

Eines Abends sagte der verwundete Spanienkдmpfer in einem Anflug von Dankbarkeit fьr die Betreuung etwas Seltsames:

ДMдdchen, ich wьnsche dir einen ganzen Mann fьr dich allein.У

Д Habe ich schon!" entfuhr es ihr unerwartet.

Der Mann kniff mit einem teuflischen Blick die Augen zusammen, die sofort dunkler wurden:

Д Hey, das kannst du niemals wissen.У

Д Aber  ich weiя es!" antwortete sie schrof und beleidigt. Sie nahm sowohl ihrem Gegenьber als auch sich selbst ьbel, dass sie entgegen ihrer sonstigen Art auf einmal so tцricht offen war. Einem absolut Unbekannten hatte sie ihr Geheimnis preisgegeben. Weshalb nur?

Natьrlich wusste sie, dass sie allein Iljas Einzige war. Nicht so wie damals bei dem Jungen im Internat, der stдndig wiederholte, dass er sie liebe und ihr sogar jene Seiten aus seinem Tagebuch vorlas, auf denen er seiner Liebe wegen Trдnen vergoss. Und er hatte ihr aufrichtig leid getan. Aber in Wirklichkeit umarmte er zur gleichen Zeit ein ganz anderes Mдdchen und nicht nur dasjenige, mit dem er sich danach befreundete. Sein doppeltes Spiel kam zufдllig ans Licht, als zwei Klassenkameradinnen eines Tages ihre Tagebьcher austauschten.

Doch jetzt wusste sie es ganz genau Ц sie war die Einzige. Ilja hatte sie lange umworben. Ja, und selbst jetzt noch, nach anderthalb Jahren, umwarb er sie jeden Tag. Und ihr gefiel es, dass es so war. Es gab Gewissheit in die Aufrichtigkeit seiner Liebe, ihrer Dauerhaftigkeit und Bestдndigkeit.

Aber sie wusste nicht, was Ilja beunruhigte. Er begriff, dass in ihrer Jugendlichkeit noch nicht alles fьr die Liebe erblьht war. Sie war zдrtlich, genoss seine Liebkosungen und ihre Nдhe miteinander. Aber nicht so, wie es im Lazarett jene reife Krankenschwester genossen hatte, die  ihn liebkosend dabei stцhnte und scheinbar blitzschnell fast das Bewusstsein verlor. Jetzt sehnte er sich selbst danach, seine  Liebste zu berьhren, umarmen, sie zu lieben. Aber sie selbst antwortete  immer nur auf seine eigene Aktivitдt.

 

Sie aber war glьcklich darьber, dass in ihrer Liebe so viel Wдrme und Verstдndnis herrschte und dass Ilja in keiner Weise jenem unattraktiven Jungen дhnelte, der so schrecklich atmete und ein ДSklave tierischer InstinkteУ war, wie ihr mal die Mutter ins Internat geschrieben hatte. So teilte sie vollstдndig die Position der Mutter, als diese ihre Gewissheit ausdrьckte, dass ihre Tochter natьrlich keine Frau werden wolle, die vollstдndig dem Manne untergeordnet ist, sondern vielmehr von sich aus nach Selbstдndigkeit danach strebt, ein kluger Mensch zu werden. Und das bedeutet, dass sie es vermag, Дьber ihre tierischen Instinkte zu herrschenУ. So beherrschte sie dann diese in Iljas Armen.

Ilja fьhlte, dass sein Mдdchen von ihm unabhдngig, viel zu unabhдngig war.

Selbst, wenn sie gдnzlich zusammen waren, befand sie sich nicht vollstдndig in seiner Macht. Darьber erschrak er, aber gleichzeitig zog es ihn an. Sie war noch ein richtiges Дsauberes MдdchenУ, von dem er hoffend im stickigen Krankenzimmer des Lazaretts von Kislowodsk getrдumt hatte. Ja, und ihr erster Kuss galt wirklich  ihm, Ilja. Und er wollte sein Schneeflцckchen ganz lieb haben, das in seinen Hдnden noch nicht aufgetaut war. Er wollte es sein ganzes Leben lang mit ganzer Kraft lieben.

Schon zwei Mal hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht und zwei Mal hatte sie ihn abgelehnt. ДDu weiяt, dass wir nur bis zum Studienende zusammen sein kцnnen. Dann fahre ich nach Deutschland. Ich erfьlle meine Pflicht. Und wir haben uns das beide klar gemacht und vereinbart. Quдle dich und mich nicht.У

Sie hatte mit Nachdruck gesprochen und er gab es auf. Hauptsache war, sie liebte ihn und nach drei Jahren muss man es aushalten, falls sie wegfдhrt. Weshalb sollte man sich jetzt schon die Seele belasten? Und so verscheuchte er die traurigen Gedanken, kьsste mit leidenschaftlichen Lippen ihr Gesicht, ihren Hals, vergrub zдrtlich seinen Kopf in ihre flaumigen lockigen Haare und sie schmiegte sich vertrauensvoll an ihn. So ist es gut, so ist es wunderbarЕ

Aber wenn sie nicht mehr wiederkommen wird, ja wenn sie schon jetzt nicht mehr zurьckkommen kann?

Wдhrend der zwei Berliner Ferienmonate fand Ilja keine Ruhe, er lies die Angst nicht hochkommen. Aber der Schmerz kroch wieder und wieder in ihm hoch, ergriff die Seele, verdarb die Freude am Leben.

 

In der gleichen Zeit schloss sie, voll Neugier und  Verwunderung, Bekanntschaft mit Deutschland, mit der Heimat, in der Дihre Wiege standУ und ьber die sie absolut nichts wusste und die sie nicht verstand. Denn schlieяlich war sie in Russland aufgewachsen.

Je weiter sich der Zug von Moskau entfernte, desto mehr richteten sich ihre Gedanken auf die nдher rьckende Bekanntschaft mit Deutschland. Es stand die Begegnung mit dem Land bevor, in dem sie geboren wurde und das sie als Vierjдhrige verlassen hatte.

Mit Berlin verband sie nur die Erinnerung an die riesigen  ДNegerkuss-Kuchen У, an kleine  Neger-Kunststoffpuppen, die im Schaufenster des Nachbarhauses standen (und sie hatte sich damals im Stillen so sehr gewьnscht, dass die Mutter ihr eine solche Puppe kauft) und an die lebhaften, gelben, flaumigen Kьken, die lustig in einem Terrarium eines groяen Kaufhauses am Alexanderplatz herum hьpften. Und sie erinnerte sich an den Friedhof vor ihrem Haus und an den Tag, da sie Berlin in Richtung Moskau verlieяen. Zwar nicht so sehr an den Tag, als an die damit verbundene Aufregung, die sich ihr von der Mutter ьbertrug, als sie nach dem Baden die Tochter mit einem Handtuch abtrocknete, das sie dann mit einem solchen Schwung auf den Wasserkocher warf, wodurch es sofort brenzlig zu riechen begann.

Sie war nicht in Deutschland aufgewachsen. Das Land, in dem Дihre Wiege standУ, war ihr unbekannt. Das Verhдltnis zu ihm war ьberlagert durch die Kriegszeit, durch Moskau und die Evakuierung ins Gebiet Gorki.

Der Zug brachte sie zu jenen Deutschen, die sie ьberhaupt nicht kannte. Vielmehr wusste sie eines ьber sie: Sie hatte die Faschisten an die Macht gelassen und haben es nicht geschafft sie abzuschьtteln. Unter denen mit wem sie bald verkehren wird, gab es auch Menschen, die sich zu Sadisten entwickelt hatten und mit ausgesuchten Methoden Menschen in den Konzentrationslagern gequдlt hatten. Wie konnte so etwas geschehen?

Einige ihrer Kommilitonen nahmen ernsthaft an, dass Sadismus einem jeden Deutschen innewohnt und von Generation zu Generation durch Blut und Gene vererbt wird oder aber das Ergebnis einer ausgesprochen deutschen Erziehung ist. Ihr waren derartige Erцrterungen vollkommen fremd und wer sie vertrat, war einfach ein Dummkopf mit rassistischen Vorurteilen, was derjenige von sich natьrlich nicht behaupten wьrden. Aber sie wollte begreifen, wie Deutsche zu derartigen sadistischen Fanatikern werden konnten, die technisch ausgeklьgelte Vergasungsautos bauten und ganze Vцlker vernichteten: Mдnner, Frauen, Kinder, Juden oder Zigeuner. Natьrlich war ihr bewusst, dass es in allen Vцlkern Schufte

gab, aber wieso die Deutschen es zulieяen, dass Sadisten derartige Grausamkeiten massenhaft verьbten, das ging ihr nicht in den Kopf.

Sie wusste auch, dass ein jedes Volk seine positiven und sehr tapferen Menschen hatte, die sich nicht scheuten, dem Bцsen entgegenzutreten, ohne auf die Folgen fьr sich zu achten. Nach ihrer №berzeugung waren ihre Eltern solche Menschen. In Deutschland hatte man ihren Vater bereits als blutjungen Menschen ins Gefдngnis gesteckt, weil er sich antimilitaristisch betдtigte. Und als neun Monate altes Kind hatte sie mit ihrer Mutter zweimal in der Zelle ihres Vaters ьbernachtet.

Helden waren auch ihre Reisegefдhrten im Abteil, die in die Heimat zurьckkehrten aus der sie wegen ihres aktiven Antifaschismus vertrieben worden waren. Aber ihre Eltern und deren Genossen waren nur ein Kцrnchen des deutschen Volkes. Sie hatten sofort das Wesen des Faschismus durchschaut, was den ьbrigen Deutschen erst im Laufe eines Jahrzehntes gelang. Sie waren von der Mehrheit ihrer Landsleute unverstanden geblieben und einsam war ihr Kampf. Doch diese tapferen Menschen hatten sich in ihn gestьrzt, um ihr Volk und die gesamte Menschheit zu retten. 

Sie war in einer Atmosphдre dieser neuartigen Missionierung aufgewachsen, unter Menschen, die davon erfьllt waren, dass sie wissen, wie die Welt umgestaltet werden muss, damit alle Menschen glьcklich werden kцnnen. Ihre №berzeugtheit, ihre Furchtlosigkeit erhцhten in ihren Augen die Lebensideale des Vaters, der Mutter und ihrer Freunde ьber das Alltagsleben eines einfachen Deutschen, erhob sie ьber die anderen Menschen. Sie war die Tochter ihrer Eltern und es krдnkte sie ihretwegen, dass sich die einfachen Deutschen nicht den Kommunisten angeschlossen hatten, sondern sich den Faschisten andienten und gegen andere Vцlker in den Krieg zogen. Und wie sie sich auch immer selbst versicherte, dass der einfache Deutsche keine Schuld trage, da er betrogen worden sei in seiner Orientierungslosigkeit und Angst, so war sie im Unterbewusstsein dennoch auf eine negative Wahrnehmung der dortigen Deutschen eingestellt, schrieb ihnen die Qualen zu, die das Land erlitten hatte, in dem sie aufgewachsen war.

Fьr sie waren die Deutschen, die den Faschismus nicht abgeschьttelt hatten, trotz alledem Schuld am Unglьck jener Kinder, die jetzt mit ausgestreckter Hand, immerhin ein Jahr nach Kriegsende, an ihren Zug traten und um Brot bettelten. Die Deutschen trugen Schuld an der Alten, die auf Krьcken im Gefolge der flinken Jьngelchen den Zug erreichte und ihr Stьck Brot nicht bekam. Die 19-Jдhrige hatte auf dieser Station schon alles weggegeben Ц sie konnte den Blick hungriger Kinderaugen nicht ertragen .Und die Alte warf ihr durch das offene Fenster tadelnd und voller Verurteilung vor: ДWenigstens ein Stьck Rinde haettest du mir doch wohl ьbrig lassen koennen.У

Und dieses Дein Stьck RindeУ grub sich der jungen Moskauerin schmerzhaft in die Seele. Und das Mitleid war nun ihr Reisebegleiter und auch die Qual, zumal bis Berlin noch unendlich viele Stationen mit hungrigen Kindern und verwaisten Alten auf sie noch warteten. Sie konnte die Deutschen nicht von der Schuld freisprechen, den Krieg nicht verhindert zu haben. 

Obwohl sie die Deutschen fьr schuldig erklдrte, war sie doch frei von vielen Stereotypen, die in jenen Jahren vermehrt in der Presse und in den Hirnen vieler weithin verbreitet waren. Sie selbst war Deutsche und allein deshalb konnte sie nicht die Meinung darьber teilen, dass zum Beispiel alle Deutschen Sadisten seien. In keiner Weise ist sie selbst je sadistisch gewesen und ihre Eltern hatten sie  freiheitsliebend, auf das Verstдndnis anderer Menschen orientiert und nicht auf Verurteilung gerichtet erzogen. Deswegen verstand sie, dass auch die Deutschen an der Front zu leiden hatten, denn sie waren gegen ihren Willen in die Schьtzengrдben gejagt worden oder wenigstens in der Mehrheit nicht freiwillig dort. Und sie begriff auch, dass wahrscheinlich an der Front gegen ihr Vaterland auch ihre Cousins kдmpften, die sie ьberhaupt nicht kannte. Mцglicherweise auch ihr Lieblingsonkel Gerhard, der jьngere Bruder der Mutter, die ihn in seiner von Hunger geprдgten Kindheit umsorgt hatte  und der, als er bei ihnen in Berlin zu Gast war, mit Freude seine Nichte bemutterte und mit der Kleinen herumgetobt hatte. Als einzigen konnte sie sich an ihn errinnern. Wenn sie auch nur wenig дlter gewesen wдre, dann wдre sie im Krieg an der Front gewesen und zwar in vorderster Linie, so wie ihre Hausnachbarin Renate Zeisser, wie der Mann ihrer Freundin Walja, Helmut, wie Gregor Kurella, wie Konrad und Mischa Wolf und wie viele andere Kinder deutscher Antifaschisten, die als Freiwillige an die Front gegangen waren, um den Faschismus zu besiegen. Und dort wurde geschossen, wohl mцglich auch gegen Verwandte, die man gar nicht kannte.. Das дnderte aber nichts an ihrer Weltsicht als Sowjetmensch, der die Faschisten hasst. Diese Kompliziertheit des Lebens nahm sie damals ohne Seelenqualen auf. So war es nun einmal. 

Nicht umsonst machte sie in der Schule Bekanntschaft mit der Bьrgerkriegs-Literatur.

Und sie liebte den ДStillen DonУ. Sie hдtte sich die Kugel gegen einen Blutsverwandten verziehen, der sich schlieяlich in Feindesland befand. №brigens hatte sie auch dem einfachen deutschen Soldaten die Kugel verziehen, die Ilja zum Invaliden gemachte hatte. Ihrer Meinung war daran allein Hitler schuld. Aber was sie nicht verzeihen konnte, war, dass die Deutschen Hitler nicht davongejagt und den Krieg nicht verhindert hatten.

 

Sie fuhr nach Deutschland zu den Eltern und wollte unbedingt ergrьnden, warum die Deutschen nicht gegen Hitler rebelliert hatten. Und ьberhaupt: wer sind sie eigentlich, die ДrichtigenУ Deutschen, die in Deutschland leben?

Die ersten ДrichtigenУ Deutschen hatte sie bereits schon in Moskau gesehen. Das war ein Jahr vor Kriegsende, auf dem Gartenring, auf dem damals Kolonnen von Kriegsgefangenen entlang zogen. In gewaltigen grauen Reihen gingen die Deutschen auf dem Fahrdamm. Sie gingen schnellen Schrittes ohne innezuhalten.

Sie saugte sich mit den Augen an ihren schnell vorbeihuschenden Gesichtern fest, versuchte zu ergrьnden, was sie fьhlten, was sie in diesem Augenblick dachten, als sie nur wenige Schritte an ihr vorbeizogen. An ihr, die auch eine Deutsche war, aber in der Menge der Moskauer stand, die nun auf jene blicken mussten, die ihre liebsten Menschen ermordet hatten. In diesen Minuten wusste sie nicht, wer fьr sie gerade interessanter war: die Deutschen, die sich in ihren grauen Mдnteln ьbers Pflaster bewegten oder die, die mit ihr dicht an dicht  auf dem Bьrgersteig standen. Sie wollte weder von der einen, noch von der anderen Seite Hass spuehren, obwohl sie wusste, dass Hass unausweichlich war.

Indem sie in die Gesichter sowohl der Einen als auch der Anderen blickte, kam in ihr plцtzlich das Gefьhl hoch, dass in diesem gerade um sie herum vollziehendem wirklich  historischen Ereignis etwas von purer Alltдglichkeit war, sowohl auf Seiten der Sieger, als auch auf der der Besiegten, ganz ohne die Erhabenheit eines historischen Moments. Unter den Deutschen bemerkte sie nur einen Einzigen, der in ihrem Unterbewusstsein als ein richtiger Deutscher galt. Jener schritt mit gesenktem Kopf in den  Menschenreihen, die die Marschordnung nicht zu achten schienen. Seine Augen waren stur auf den Asphalt gerichtet, die Lippen fest zusammengepresst, die Hдnde krampfhaft zu Fдusten geballt.  Wenn er die Mцglichkeit gehabt hдtte, wдre er wohl noch fester ausgeschritten. Mit jeder Bewegung seines hageren Kцrpers lieя er Verachtung, Hass und Stolz erkennen. Doch war er der einzige dieses Typs und hob sich durch sein Alter von den anderen meist blutjungen Deutschen ab, die immer wieder die Kolonne durcheinander brachten, weil sie mit erhobenen Kцpfen ihre Blicke hastig ьber die Hдuser des Gartenrings oder die Gesichter der am Straяenrand Stehenden gleiten lieяen. Fьr die Jungen war es wohl interessant, sie wollten schnell alles erfassen und in ihre Erinnerung aufnehmen, was das gnдdige Schicksal ihnen  unerwartet zu sehen erlaubte: Moskau und die Moskauer. Und ihren Augen erkannte  sie Interesse,  pure Neugier, fast Freundlichkeit, aber  keine Spur von Bцsartigem. Sie waren am Leben geblieben. Und im Rahmen ihrer Mцglichkeiten genossen sie in diesen Minuten das Leben. Ganz normale Menschen, die beinahe Ausflugsstimmung zeigten.

Nicht nur sie  empfang die unverstдndliche Alltдglichkeit des Vorganges. Neben ihr stand eine alte Frau, bestimmt keine Moskauerin, sondern eine von Lande. Ohne jemanden anzusprechen jammerte sie plцtzlich laut auf: ДMein Gott, was sind das nur fьr  Jьngelchen, die mьssten mal in der Badewanne aufgepдppelt werden, diese Jammerfiguren!У

Niemand unterstьtzte diese Idee, die dem bedeutungsvollen Moment bestimmt widersprach. Aber auch niemand sprach dagegen. Selbst der stattliche Alte nicht, der in seiner absolut stolzen Haltung und mit einem beeindruckenden Vollbart soeben von einem Partisanenplakat herabgestiegen sein kцnnte. Der Alte sah nur auf den besiegten Feind und mit jenem Blick, der eigentlich Allen passen mьsste: mit  Verachtung, mit demonstrativer Geringschдtzung  in seinen  klaren, kalten Augen. Die groяen Hдnde waren zu Fдusten geballt und verrieten Hass gegenьber der durch Moskau ziehenden Horde von Feinden. Er war der Einzige mit diesem Blick, mit diesen Fдusten. So wie auch der Deutsche mit seinen geballten Fдusten der Einzige war. In den Blicken der anderen Moskauer las sie ebenfalls Neugier und Verwunderung darьber, dass der Feind so ganz dicht war, nur einen Meter entfernt, und dabei keinen Hass auslцste. Auf dem Moskauer Bьrgersteig standen auch einfache Menschen, die das Ereignis betrachteten,  als sei es eine interessante Kinochronik.

Allein die Gesichter der bewaffneten Begleitsoldaten, die in gewissen Abstдnden den Zug eskortierten, zeigten in ihren Mienen das Bedeutende dieses Ereignisses: streng, konzentriert, wachsam.

Und der Strom der gefangenen Deutschen hцrte und hцrte nicht auf.

Aber plцtzlich geschah etwas in der Kolonne, das die recht lose Marschordnung fьr Augenblicke vцllig durcheinander brachte. Einer dieser blutjungen Soldaten hatte beim Betrachten seiner Umgebung wohl nicht bemerkt, dass sich sein Kochgeschirr lцste. Nun fiel es auf den  Asphalt. Der Junge bьckt sich schnell und wollte es wieder aufheben. Die stur nachrьckenden Reihen aber verhinderten, dass er sein Blechgefдя fassen konnte. Ungerьhrt auf die Einhaltung der Marschreihen bedacht, gaben sie dem Jungen keinen Raum dafьr.

 Fьr einen Moment war der Soldat verwirrt und blieb stehen. Ein Gefangener stieя das Kochgeschirr wie einen Fuяball in Richtung des unglьcklichen Pechvogels. Doch ungezдhlte Beine waren dazwischen und verhinderten so den direkten Weg zum Verlierer. Hilflos und auf ein Wunder hoffend stand der Soldat noch da. Ganz offensichtlich wollte er die desolate Marschordnung nicht noch mehr durcheinander bringen.

Da lцste sich plцtzlich eine junge Frau aus den Reihen der Zuschauer vom Bьrgersteig und lief direkt in Richtung der Soldaten, die immer noch das Kochgeschirr mit ihren Fьяen traktierten. Dieses war nun in der Reichweite der spontanen Helferin. Sie konnte den Metallnapf durchaus aufheben und dem vollkommen aus der Fassung geratenen  in seine zitternden Hдnde drьcken.

Da ergriff aber die Pranke des vollbдrtigen ДPartisanenУ die Schulter der Frau und zog sie mit aller Kraft in die Zuschauerreihen zurьck. ДWohin ? Bist du verrьckt geworden?У, fragte der Alte drohend. Verlegen ging die Frau an ihren Platz zurьck. Und wieder schwiegen die Umstehenden dazu. Der deutsche Soldat machte sich ohne sein Kochgeschirr verstцrt von dannen. Dieses polterte immer noch weiter zwischen den Fьяen  des dahin ziehenden grauen Kolonnenwurms und niemand unternahm auch nur den Versuch, sich fьr eine Sekunde nach diesem zu bьcken und es aufzuheben.

Es war dennoch das nichts Alltдgliches in dem sich vor ihren Augen vollziehenden historischen Ereignis. Zwischen einfachen Deutschen und den einfachen Moskauern auf dem Gartenring existierte eine kaum sichtbare aber  harte Grenze, die der Tod zwischen ihnen schaffte.

Sie hatte damals fьr alle Verstдndnis: fьr die alte Frau, den alten Partisanen-Typ, fьr die Frau mit ihrem Hilfsversuch, fьr das deutsche Soldaten-Jьngelchen und sogar fьr den hageren alten Deutschen. Alle taten ihr leid.

Doch diese Gefьhle nahmen trotz allem von den Deutschen nicht die Schuld daran, dass sie Hitler nicht gestьrzt hatten. Hдtten sie das getan, dann wдre das jetzige Leid nicht nцtig. Mit diesen Gedanken fuhr sie also nach Deutschland, um ein Land zu ergrьnden, in dem sie zwar geboren worden war, das sie aber weder kannte noch verstand.

 

Die erste deutsche Stadt, auf deren Bahnsteig sie ihren Fuя setzte, war Frankfurt an der Oder. Gemeinsam mit Andrej, einem russischen Offizier, der  ein ganzes Nachbahr Kupee fuer sich allein hatte und die ganze Fahrf lang sehr behutsahm versuchte ihr den Hof zu  machen,  stieg sie aus dem Waggon, um heiяes Wasser zu holen. Aber auf dem gesamten Bahnhof fand sich weder ein Hahn noch ein Gefдя dafьr. Dafьr stand  aber mitten auf dem Bahnsteig ein groяer Kessel unter Dampf, aus dem eine дltere schlanke Deutsche, den Kopf modisch mit einem Seidenschal umschlungen und vorn mit einem Knoten vollendet, mittels einer Kelle Wasser in Teekannen und Krьge an alle Bedьrftigen schцpfte.  Diese wiederum entlohnten die Frau fьr das Wasser entweder mit einigen Zigaretten oder einer ganzen Schachtel. Sie gab an alle aus, Ц Deutsche und Russen Ц die in langer  Schlange zu ihrem Kessel standen, sagte ihr ДDankeschцnУ und wiederholte immer wieder auf Deutsch wie ein Automat: ДHaben sie vielleicht ein paar Zigaretten? O, sie sind sehr nett, sehr freundlich. Dankeschцn.У

Mit Andrej stand sie nun in der Schlange und beobachtete, wie die Frau mit Wasser und einem Lдcheln Handel trieb. Ihr gefiel die deutsche Frau ьberhaupt nicht. Doch gleichzeitig mit den Lauten der deutschen Sprache aus den Mьndern der vorbei gehenden Passagiere des Nachbarzuges und aus dieser ersten Дrichtigen DeutschenУ  fьhlte sie etwas Eigenartiges in ihr aufkeimen und sie musste auf einmal unwillkьrlich ganz leise lachen.

 ДWas haben sie?У, fragte Andrej verwundert, der  schon bemerkt hatte, dass sie eigentlich selten lдchelte und der sie nun zum ersten Male lachen sah. Sie hob nur die Schultern. Sie wollte nicht erlдutern, dass ein tief liegender Kindheitsruf  in ihr hochkam, ein Ruf aus jenen zдrtlichen Jahren, als um sie herum nur deutsch zu hцren war. Und sie nahm diese Tцne in ihr Herz auf und lieя sich durch sie erfreuen, aufmuntern und zu einem Schmunzeln bewegen.

Aber  da verlor ein Soldat aus ihrem Zuge, der am Ende der Schlange stand, die Geduld. Er sah wohl, dass sich die Wasserausgabe endlos hinziehen wьrde und  er nicht mehr drankommt. ДLos, gehen wir vor und schцpfen uns das Wasser selbst aus dem Kessel. Wozu die Sache hier ins Endlose ziehen, У schlug er seinem Kameraden vor und verlieя die Schlange. Der aber bekam ein Schreck. ДBist wohl verrueckt!?? Sieh mal, wie  sauber bei ihr alles ist. Was soll sie dann von uns denken?У Da trat der Initiator zur Beschleunigung der Wasserausgabe wieder in die Schlange zurьck. Aber dann pfiff die Lokomotive und die Passagiere  eilten zu ihren Waggons. So auch der Soldat Ц ohne Wasser.

ДDas sind mir vielleicht ВBesatzerТУ, dachte sie erfreut und zufrieden. Sie nahmen Rьcksicht auf diese Spekulantin, die durch heiяes Wasser reich wurde! Und jede Zigarette, hat Andrej gesagt, ist hier Gold wert. Dieses Lumpenweib. Dagegen die Soldaten Ц einfach Prachtkerle.

Die Дerste richtige DeutscheУ da auf dem Bahnsteig war so ganz und gar nicht dem beleibten hдuslichen Gretchen дhnlich, das die russische Literatur des 19. Jahrhunderts von den Deutschen Frauen zeichnete und woraus die Karikaturisten in der Kriegszeit ihre Muster entnahmen. Diese Deutsche hier war dьnn, zappelig, gefallsьchtig und geschдftstьchtig. Das war verwunderlich.

Einige Stunden spдter fuhr der Zug langsam in einen Berliner Bahnhof ein. Der war eine graue Eisenkonstruktion und irgendwann auch mal verglast. Sofort roch es jetzt ganz anders, absolut nicht dem Moskauer Geruch дhnlich. Die Luft war vom Geruch anderer Steine erfьllt, vom Rauch anderer Zigaretten, unbekannter Zigarren und Pfeifen.  Die Luft war ganz anders, aber komischerweise absolut nicht fremd und was erstaunlich daran war, dass ihr dieser Geruch sogar angenehm war. Nein, nicht einfach nur angenehm. Offensichtlich genoss sie den Geruch von Berlin, sog ihn immer und immer wieder in sich ein,  spuehrte die Nuancen. Da war auch etwas Unheimliches.

Niemand von ihrer Familie war auf dem Bahnhof. Aber sie erwartete auch Niemanden, denn sie hatte absichtlich nichts von ihrer Ankunft mitgeteilt. Es sollte eine №berraschung sein. Auf dem Bahnsteig stand nur die dicke Milli, die frьher auch im ДLuxУ gewohnt hatte und schon eher nach Deutschland zurьckgekehrt war. Jetzt holte sie im Auftrag der Partei eine weitere Rьckkehrer-Gruppe ab. Milli, nach einem kurzem Gejammer wegen des Leichtsinn der 19-jдhrigen Reisenden, bot der Tochter ihrer Freunde an, sie nach Hause zu begleiten.

Sie fuhren in einer armseligen und farblosen U-Bahn. Sie konnte der prдchtigen Moskauer Metro in keiner Weise das Wasser reichen. Und neben ihr saяen nun also diese Deutschen, die Hitler nicht gestьrzt hatten. Die Mдnner im Jackett und Krawatte, die Frauen im karierten Kleid oder Bluse und Rock, gut gekleidet, solide und akkurat. Und bei allen waren die Schuhe geputzt. Sie fuhren schweigend, manche lasen Zeitung.

ДWeiяt du, die Leute sind hier sehr hцflichУ, lieя sich Milli vernehmen, als habe sie die Gedanken ihrer jungen Gefдhrtin erraten. ДNiemand brьllt rum, niemand schimpft laut. Die Russen verstehen das nicht und glauben, dieses Verhalten ist durch Feigheit begrьndet. Aber die Deutschen sind keine Feiglinge. Sie sind nur gewohnt, die Macht zu respektieren und sie ordnen sich ihr unter. Das ist vielleicht gar nicht so schlecht.У ДDeshalb haben sie auch Hitler nicht davongejagtУ, gab sie zur Antwort. ДNicht deshalb. Hier beginnst du zu verstehen, dass vieles komplizierter war. GlaubТ mir. Wir haben in Moskau vieles nicht verstanden. Leider.У

Aber weiter дuяerte sich die dicke Milli nicht. Das Gesagte genьgte schon, dass die 19-Jдhrige die Lippen zusammenkniff. Ihr gefiel es nicht, dass Milli irgendwie versuchte, die Deutschen zu rechtfertigen, irgendwelche Schwierigkeiten andeutete und dazu noch darьber in aller ÷ffentlichkeit sprach, ohne auf ungebetene Ohren Rьcksicht zu nehmen. ВDumme SchwдtzerinТ, dachte sie ьber Milli, zumal ihr die Mutter eingeschдrft hatte, auf Reisen keine heiklen Themen und schon gar keine politischen zu diskutieren. Zu Hause im ДLuxУ hatte sie mit Milli Mitleid gehabt, das mit Verwunderung einherging. Und jetzt saя die 40-jдhrige Frau in ihrer Gьte und Lebensfreude neben ihr, eine Frau die im Parteiauftrag nach Deutschland schon zurьck gefahren war. Gleichzeitig waren aber ihre beiden Kinder in Moskau geblieben. Sie waren noch sehr klein. Aber Millis russischer Mann hatte sie ihr nicht ьberlassen und unerwartet die Scheidung eingereicht, als sie eine Rьckkehr nach Deutschland auch nur angedeutet hatte. Noch zu ДLuxУ-Zeiten hatte Milli bitter geweint, weil sie vom Konflikt zwischen Parteidisziplin und ihrer Liebe zu den Kindern hin- und hergerissen  war. Wie es ihre Art war, beriet sich Milli mit allen und jedem, der auch nur bereit war, ihrem Gejammer zuzuhцren. Und dann war es schlieяlich geschehen Ц sie fuhr in die Heimat zurьck. Ohne ihrer Kinder.  So eine liebenswerte, hilfsbereite Person, wie hatte sie das alles nur ausgehalten?  Und jetzt saя Milli da und schwieg, wie alle Deutschen um sie herum auch.

 

Noch in Moskau hatte sie sich vorgenommen, alles in Erinnerung zu behalten, was sie sieht und hцrt, um es dann Ilja zu berichten. Damit es so ist, als ob er mit Ihr zusammen in Berlin war..

Auch der Onkel von der ДInternationalen Roten HilfeУ, der ihre Dokumente ausgestellt hatte, bat darum, alles  in sich ausfьhrlich aufzunehmen. Er war ein Schriftsteller und Aufklдrer, der lange in Japan gelebt hatte und eines seiner Stьcke lief im Theater der Roten Armee. Der 40-jдhrige Mann hatte sie nach dem Theaterbesuch zu seinem Stьck, das ihr ьbrigens gefallen hatte, ins Haus der Schriftsteller eingeladen, ihr den Reisesegen erteilt und sie bei einer Tasse Kaffee vertrauensvoll in seinen Plan eingeweiht: ДIch mцchte ein Stьck ьber deine Reise schreiben und ich habe mir den Anfang sogar schon zurechtgelegt. Du fдhrst also zu deinen Verwandten und in deren Haus finden sich auch deine Cousins und Cousinen ein. Dann kommt noch einer etwas verspдtet, hebt den Arm zum ДHeil HitlerУ, bemerkt dich und stutzt. Behalte also alles gut in Erinnerung, damit du es mir erzдhlen kannst. Einverstanden?У

Der Vorschlag gefiel ihr ьberhaupt nicht. Sie hatte etwas von den Werwцlfen gehцrt, die sich in den Ruinen Berlins herumtrieben und sowjetische Militдrs ьberfielen. Dennoch kam ihr eine solche Szenerie unwirklich vor, die sie hier angeblich in Berlin erwarten sollte. Aber das war nicht die Hauptsache.

ДWie kann man ein Stьck auf fremden Worten und fremder Eindrьcke aufbauen?У, fragte sie den Schriftsteller und setzte hinzu: ДIch kann auch nicht gerade das sehen,, was sie haben mцchten.У ДWarten wir ab, ich bin gespannt, was sich ergibtУ, lieя der ehemalige Aufklдrer nicht locker.

Sie zuckte mit den Schultern. Natьrlich wьrde es ihr nichts ausmachen, vom Geschehenen zu berichten. Aber trotzdem schreibt man doch auf diese Art keine Stьcke. Davon war sie fest ьberzeugt. Nein, damals hatte sie nicht im Traum daran gedacht, dass sie in diesen Minuten vielleicht einfach so als Informantin geworben sein sollte. Alles, was ьber das entstehende Stьck gesagt worden war, hatte sie fьr bare Mьnze genommen und den Schriftsteller wegen seines naiven Vorschlages sogar ein wenig belдchelt. Dadurch war er in ihren Augen auch ein wenig gesunken. Und er hatte natьrlich ihre spontane Distanzierung bemerkt. Und sollte sie auf diese Art und Weise geworben worden sein, dann verstand sich ihre kalte Antwort von selbst als eine Absage Informatin zu werden und auch, dass er durchschaut worden war.. Seltsamerweise ging er in keiner Weise darauf  weiter ein. Oder wollte er etwa wirklich so ein Stьck schreiben?

Nein, ein ДHeil HitlerУ erwartete sie von den Fahrgдsten in der U-Bahn nicht. Sie wollte sie aber begreifen. Was denken sie? Worьber sprechen sie? Aber wie zum Trotz fuhren sie schweigend dahin.

Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit den Plakaten im Wagen zu, die ьppig dessen Wдnde zierten. Auf einem sah man: Nacht, Mond, Hдuserschatten sowie ein Mann und eine Frau. Darunter stand: УVorsicht, gefдhrde nicht deine Gesundheit! Geschlechtskrankheiten drohen!У Auf einem anderen Plakat befreite sich ein Mann von einer ihn verfьhrerisch anblickenden Frau. Unterschrift: ДVermeide spontane Begegnungen! Geschlechtskrankheiten drohen!У Und auf kleineren Zetteln stand ДGeschlechtskrankheiten drohen!!У

Haben die Menschen hier keine anderen Sorgen? Oder ist alles wirklich so ernst?

Es wurde ihr ungemьtlich auf ihrem Sitzplatz. Waren hier irgendwelche Mikroben verborgen? In Moskau hatte sie solche ƒngste nie verspьrt. Ohne Milli etwas zu erklдren stand sie plцtzlich auf und stand nun, bis sie ihre Bahnstation erreicht hatten.

Sie war an einem Sonntag in Berlin angekommen und hatte nicht daran gedacht, dass die Eltern nicht zu Hause sein kцnnten. Aber so war es. Niemand reagierte auf ihr Klingeln  in diesem groяen mehrstцckigen Haus und niemand drьckte auf den Knopf zum ДSesam, цffne dich!У Enttдuscht klingelte sie eine Etage hцher. Auch nichts. Dann darunter. Aber die Tьr blieb geschlossen. Als sie dann ihre Geduld verlor, drьckte sie auf alle Knцpfe gleichzeitig von oben bis unten. Und siehe da, die Tьr lieя ein Schnarren vernehmen und цffnete sich. Eine solche Zutrittstechnik zu einem Haus erlebte sie zum ersten Mal und ohne Milli hдtte sie nicht gewusst, wie man mit ihr umgeht. Nun war sie also ins Haus getreten.

Am oberen Treppenabsatz hatte schon jemand die Ankommenden im Auge. Milli erklдrte der Deutschen kurz die Situation und bat darum, dass das Mдdchen bei ihnen das Eintreffen der Eltern abwarten dьrfe. Die Frau hatte nichts dagegen und bat den ungerufenen Gast in ihre Wohnung. Milli ьberzeugte sich noch, dass die Tochter der Freundin versorgt sei und verabschiedete sich gleich darauf.

So war sie nun allein mit den ihr unbekannten Menschen. Wie wьrden sie sich zu der aus Moskau kommenden verhalten? Das Ehepaar war freundlich und schlug dem Gast vor, im Zimmer des Untermieters zu warten, der zum Glьck nicht zu Hause war. Sie zeigten auf einen Sessel, schlossen die Tьr und lieяen sie allein. Aber sie hatte groяen Durst und Hunger stellte sich auch ein. Eine halbe Stunde hielt sie es mit ihrer Einsamkeit  aus, aber dann erhob sie sich entschlossen. Sie klopfte an das Zimmer der Gastgeber und bat um ein Glas Wasser. Bereitwillig bekam sie das Wasser und dann war sie wieder allein in ihrer Abgeschiedenheit. Ach ja, als sie

trank, sagte die Frau zaghaft und leise: ДWir haben in der Verwandtschaft einen Russen. Wir kennen also die Russen.У Aber sie fragte die Gastgaeberin nicht, woher dieser Russe komme   und was er im Kriege gemacht habe. Sie spьrte, dass man sie auch nichts fragen mцchte und es sich nicht gehцre, dies ihrerseits zu tun. Gast und Hausfrau benahmen sich hier  anders, als es in Moskau in einer derartigen Situation ьblich wдre, wo man sich wenigstens erkundigen wьrde, wie die Reise war, ob man nach der Reise irgendetwas brauche und vielleicht noch gebeten wird, seinen Lebenslauf zu schildern. Solch ein Schwall von Fragen hдtte sich ьber sie ergossen. Und sie hдtte auch auf alle Fragen ganz bereitwillig geantwortet. Nun aber kehrte sie zu ihrem Sessel zurьck.

Doch dann hцrte sie im Treppenhaus endlich Mutters Stimme: laut, freudig, verwundert. Mutter hatte Millis Notiz in den Hдnden und glaubte noch nicht an ihr Glьck: die Tochter war da! Sie war gekommen! Wie ein Blitz schoss sie aus der fremden Wohnung, nicht ohne den Gastgebern im Gehen zu danken, und schmiegte sich eng an die geliebte Mutter. Gleichzeitig spьrte sie, wie sich ihre beiden Brьderchen  an sie drдngten und sah, wie der Vater, zu Trдnen gerьhrt, wartete, bis er an der Reihe war. Jetzt konnte sie die Reise endgьltig abstreifen. Sie war endlich zu Hause.

Zu HauseЕ Die Dreizimmerwohnung in Berlin hatten die Eltern  im Leer- oder besser Verwьstungszustand erhalten. Die Vormieter waren in den letzten Tagen des Krieges von selbst aus dem Leben geschieden. Sie hatten Angst vor den Russen, die schon vor der Stadt standen. Und als Goebbels im Rundfunk die Deutschen zum massenhaften Selbstmord aufrief, vergiftete sich die Familie mit Gas. Verwandte hatten die Mцbel abgeholt. Auf einem Fensterbrett war von den damals noch Lebenden nur eine Bibel im schwarzen Leineneinband geblieben und im Zwischengeschoss fand sich noch ein zurьckgelassener Spiegel, ein altes Modell mit einem massiven Griff in schwerem, versilberten Rahmen.

Zu HauseЕ Im Hof dieses Hauses, genau zu dem Zeitpunkt, als die ehemaligen Wohnungseigentьmer starben, sammelten Mьtter   ihre Kinder um sich, stellte sich mit ihnen an die Wand und baten  einen vorbeikommenden deutschen Offizier, sie zu erschieяen. Damit folgten auch sie dem Aufruf des hinkenden Reichsideologen, der mit seiner Frau und mit fьnf seiner Kindern aus der Welt ging. Der Offizier war der Bitte der Frau nachgekommen.

Diese schizophrenen Selbstmorde waren vor einem Jahr passiert. Nur ein Jahr war seitdem vergangen. Und jetzt lebte ihre Familie hier. In eben diesem Hof tollten ihre Brьder umher, spielten mit den Kindern, deren Eltern  sich und ihre Kinder nicht aus dem Leben genommen hatten. Und auch an der Erschieяungswand  spiehlten jetzt Kinder. Aber  sie spiehlten in jenem Jahr nicht den Krieg. Denn sie hatten den Krieg noch in ihren Herzen und Kцpfen. Dies bestimmte auch ihr Verhдltnis zur Wirklichkeit. Im Hof nannten sie ihre kleinen Brьder Дdie RussenУ, befreundeten sich jedoch mit ihnen. Wenn auch nicht alleЕ

Sie fragte sich, ob der Aufklдrer-Schriftsteller wohl solche schrecklichen Szenarien in sein Stьck aufnehmen wьrde? Den freiwilligen Todesgang deutscher Frauen und Kinder aus Angst vor den Russen? Die Antwort gab sie von  selbst: Nein, das wьrde er nicht tun. Das bedeutete aber, dass sein Stьck nicht wahrhaftig wдre. Sie aber lieяen diese Szenen der letzten Kriegstage nicht los. Vor ihren Augen standen sie: eine Mьtter mit ihren Kindern, noch lebten sie, die Kleine auf der Hand, dem Groяen hatte sie die Hand auf die kindliche Schulter gelegt. Ein Schuss, oder zwei? Vielleicht drei?  Sie wollte nicht sehen, wie  die Erschossenen zusammensackten, wie sie kein schneller Tod ereilte. Und was tat dann der Offizier? Machte ein Kontrollschuss in die Kцpfe? Oder hatte er sich einfach umgewandt und war weggegangen? Oder weggerannt? Und was war mit denen, die aus den Fenstern diesen Mord am helllichten Tage hatten beobachten kцnnen? Waren sie zur Hilfe geeilt? Oder haben sie die Gardinen zugezogen? Und wer hat die Leichen fortgeschafft?

 Der Schrecken jener Minuten erfasste sie und verlieя sie nicht.

Sie wollte alles im Gedдchtnis behalten, was sie sah und hцrte, was sie selbst in diesen Berliner Ferien erlebte. Schon Iljas in Moskau wegen. Es gab endlos vieles  zu erzдhlen.

Es verging kein Tag, an dem die Eltern sie nicht mit irgendjemanden ihrer Freunde bekannt machten oder Verwandte empfingen. Von beiden gab es viele und ein jeder hatte sein Schicksal, seine Probleme, seine Fragen an sie, die aus Moskau gekommen war. Aber auch sie hatte Fragen an Vaters Freunde, die Kampfgefдhrten gegen den Faschismus. Und sie hatte Fragen an die Verwandten, jene einfachen Deutsche, die Hitler nicht gestьrzt hatten. Diese Begegnungen und Treffen verдnderten wie in einem Kaleidoskop das Bild vom Berliner Leben und ein jeder Tag ergab einen neuen Strich darin.

Am ersten Abend stellte Vater seine Frage.

Es war nun schon ein Jahr her, da er erneut in der Heimat war, in Berlin einen Parteiverlag aufbaute und damit beschдftigt war, das er als noch blutjunger Genosse in seinem Parteileben als Kommunist schon einmal geschafft hatte. Und jeden Tag traf er Freunde aus entfernten Jugendtagen. Da kamen welche aus Amerika, Frankreich, der Schweiz. Andere kamen aus deutschen KZ und Gefдngnissen, wie durch ein Wunder unversehrt. Wenn sie sich trafen, wollten sie voller Ungeduld alles voneinander wissen. ДWas ist mit KlaraУ, fragte Vater nach seiner ersten Liebe. ДVon der Gestapo zu Tode gequдltУ, erhielt er zur Antwort. Er aber trдumte schon vor Langem davon, dass seine erste Enkelin den Namen Klara erhalten sollte. ДUnd wo ist Kurt?У, folgte als nдchste Frage. Nun antwortete Vater: ДIn Spanien gefallen.У ДUnd Erich?У ДEr wird  bald kommenЕУ ДUnd Gerhard, und Karl und Rosi?У, wollten sie von Vater wissen.

ДWas soll ich  antworten?У, wandte sich der Vater verzweifelt an die Tochter. ДDu bis doch Historikerin. Was soll ich nur antworten, wenn sie 1937 umgekommen sind? Was nur?У

Sie konnte ihm noch nicht sagen: ДSag die WahrheitУ, denn sie kannte die Antwort selbst nicht. Fьr sie дnderte das Jahr Т37 nichts im Hinblick auf ihre Freundinnen, deren Vдter als ДFeinde des VolkesУ verhaftet worden waren. Sie war davon ьberzeugt, dass im Verhдltnis zu ihnen, die gute Menschen waren und die sie persцnlich kannte, mit denen sie Ski gefahren war oder Stalins Reden im Radio gehцrt hatte, die von genauso solchen Mдdchen geliebt waren wie sie selbst war, dass da ihnen gegenьber ein ungeheurer Fehler gemacht worden war, der aber unbedingt korrigiert werden wьrde. Denn die Gerechtigkeit, so glaubte sie, wird immer triumphieren. Schlieяlich wird das so kommen. Welche Ursachen diese Fehler haben, wusste sie auch noch nicht. Sie glaubte, wie es ihr die Mutter erklдrt hatte, als sie damals zehn Jahre alt war, dass die wirklichen Feinde der Sowjetunion, die man entlarvt hatte und die im Gefдngnis saяen, absichtlich ehrliche Kommunisten verleumdeten, um so viel wie mцglich Schaden anzurichten. Und so hatte man auch jene Vдter ihrer Freundinnen verhaftet. Doch nun waren aber schon so viele Jahre vergangen und die Verleumdungen wirkten immer noch. Warum nur? Sie wusste keine Antwort.

 

Allerdings kam ihr nicht in den Sinn, die Untaten der deutschen Faschisten mit ihren

Vergasungswagen und Krematorien, ihrem lьckenlosen Denunziantentum auf die gleiche Waagschale mit dem Jahr Т37 zu legen. Die Maяstдbe der Vernichtung vollkommen unschuldiger Menschen im Jahr 1937 und dagegen in Hitlers KZ erschienen ihr damals absolut nicht gleichsetzbar. So schien es ihr, der jungen Moskauerin, weil sie noch nichts wusste sowohl von der Vertreibung ganzer Vцlker, der Koreaner, der Sowjetdeutschen, Tschetschenen und vieler anderer, die das Leben tausender und abertausender Alter, Frauen und Kinder kostete, wie auch jenes in der Blьte stehender jungen Mдnner, die Ungerechtigkeiten und Demьtigungen nicht ertragen konnten. Sie wusste nichts von den Verbrechen in Katyn, hatte nicht mitgelitten bei der Enteignung der Kulaken. Sie wusste einfach nicht, wie alles geschehen war und wer diese Kulaken eigentlich waren.

Und wie sie wussten aber auch die einfachen Deutschen nichts. Nichts ьber Buchenwald. Sie wurden ohnmдchtig, als sie auf Befehl der Militдrkommandantur von Weimar nach Buchenwald hinaufgehen mussten und dort alles sahen. Wenn sie es nicht taten, gab man ihnen keinen Stempel in den Ausweis, der zum Empfang der Brotkarte berechtigte. Die Deutschen verloren das Bewusstsein, als sie sahen, was vor ihrer Nase geschehen war, dort im Wald, in dem sie Pilze gesucht hatten. Und fьr diese Deutschen, die einfachen Deutschen, standen am KZ-Tor Krankenwagen bereit.

Sie hatten keine Ahnung, genau wie sie, die junge Moskauerin, nichts ьber die Verbrechen der Stalinmacht damals ahnte.

 

Sie war aber auch kein Frдulein aus der Welt Turgenjews und mit ihren 19 Jahren lebte sie nicht nur in der Liebe zu Ilja. Nicht weniger leidenschaftlich, ja sogar leidenschaftlicher bewegten sie politische Fragen. So fand sie es einfach notwendig zu erfahren, was und wie man etwas tun soll, damit niemals mehr, nirgends auf der Welt, der Faschismus siegen kцnne. Aber Konzentrationslager, Massenerschieяungen von Menschen gab es fьr sie nur in Deutschland. Dem Land, in dem sie aufwuchs und das sie liebte, dem Land, das den deutschen Faschismus besiegt hatte, wollte sie auf keinen Fall mit dem selben Maяstab messen. Sie liebte dieses Land und sie wollte es nicht mit Schande beschmutzen, auch nicht mit Gesprдchen darьber, was sie selber fьr Fehler hielt, wie zum Beispiel, wenn es um 1937 ging. Und deshalb hatte die vдterliche Frage fьr sie noch keine Antwort.

Was sollte sie auch dem Vater raten? Sollte er etwa verheimlichen, dass Gerhard, Karl und Rosi, wie auch viele andere im Vaterland der Proletarier der ganzen Welt ermordet worden waren? In dem Land, in das sie vor dem deutschen Faschismus geflohen waren? In dem sie nun fдlschlicherweise als ДFeinde des VolkesУ galten? Oder sollte er die Wahrheit sagen? Aber wie soll das gehen, ohne das Sowjetische Heimatland zu erniedrigen und die darin lebenden Menschen auch. Welcher Rat ist hier angebracht? Damals fand sie keine Antwort, wie auch Vater keine fand, der sich mit der Unwahrheit quдlte, mit der er die Wahrheit zu verdecken suchte, diese ungeheure Wahrheit.

ДAber wir werden ein 1937 nicht zulassen. Beim Aufbau des Sozialismus in Deutschland werden wir niemals solche Fehler wie in der Sowjetunion begehen. Wir werden aus ihnen lernen,У bekrдftigte der Vater, wenn er gedanklich oder in Worten auf jene Tragцdien zurьckkam, die zu erklдren er nicht vermochte und auch nicht rechtfertigen konnte. Sie glaubte an die Versicherung des Vaters. Beide wussten damals noch nichts von der Zukunft. Und sie hatten viele Illusionen, ungeachtet der Bereitschaft und des Wunsches, offen die Welt zu betrachten. Vieles konnten oder wagten sie nicht zu Ende zu denken. Sie waren eben auch nur Дeinfache MenschenУ, aber das wussten sie noch nicht.

 

Eine Vielzahl von Illusionen hatten auch jene Freunde des Vaters, die wдhrend der ganzen Jahre in Deutschlands Konzentrationslagern oder Gefдngnissen vegetierten. Sie hielten sich heldenhaft in den Folterkammern oder in der Illegalitдt und stьtzten sich auf den heiligen Glauben an das erste sozialistische Vaterland der Welt. Die Kommunisten, die in Deutschland ьberlebten, waren keine Nomenklaturkader der Partei oder Teilnehmer einer Staatsmacht. Es waren Revolutionдre, die dafьr gelitten hatten, dass die Welt zum Wohle der gesamten Menschheit umgestaltet wird. Dafьr hatten sie Konzentrationslager, Gefдngnisse und Emigration auf sich genommen. Doch durch die Macht  und die Realitдt eines Sozialismus wurden sie nicht geprьft. Sie waren voller Glauben an ihre Ideale und Hoffnungen auf eine helle Zukunft, die zu schaffen sie als Hauptaufgabe ihres ganzen Lebens ansahen und der sie alles unterordneten. Eine bedeutende Mehrheit von ihnen gestattete es sich nicht, Kinder in die Welt zu setzen. Eng miteinander verbunden, fьhlten sie sich als menschliche Gemeinschaft, in der Kampfgefдhrten, Genossen und Freunde vereint waren, die sich mit Recht nur duzten. №ber allem stand fьr sie das Interesse ihrer Partei. Das war das Credo ihrer Jugend.

Und jetzt war die Armee des Landes, in dem ihre Kampfgefдhrten, mit denen sie eine einheitliche weltumspannende Brьderlichkeit ausmachten, zu ihnen gekommen. Es  kamen ihre Genossen, die in einem einzigen Land   die groяen Ideale schon verwirklichten. Wie hatten sie auf ihre Befreier gewartet, auf die Menschen aus der realen Zukunft!  Doch diese, die nun zu ihnen als wahrhaftige Befreier vom deutschen Faschismus da waren, erwiesen sich mehrheitlich durchaus nicht als diejenigen, die sie hдtten sein mьssen, obwohl  sie auch das Parteibuch in der Tasche hatten. Und das war schockierend.

Die Freunde Vaters glaubten an die von ihnen gewдhlte Lehre, wie Christen eben an Christus und das Christentum glauben, die Muslime an Allah und seinen Propheten Mohammed, wie die Bьrgerrechtler an die Menschenrechte, die Reform-Demokraten an den Markt und die Zivilgesellschaft und ein jeder an das Seine, im Unterschied zur anderen Wirtschaftslehren. Und sie waren bereit, fьr ihre Lehre Qualen durchzustehen, nach Golgatha zu gehen und zu sterben. Und sie starben auch. Aber jene, die ьberlebt hatten, erwarteten in der Roten Armee neue, wunderbare Menschen zu treffen, geformt von einem neuen, gerechten, von allem Schmutz gereinigten Staat.

Diese Erwartungen konnten nichts anderes als groяe Enttдuschungen  hervorrufen. Die einfachen Kommunisten Deutschlands, die aus den Gefдngnissen kamen und sich dem Aufbau des Sozialismus in ihrem Lande zuwandten, konnten noch dazu auch noch nicht wissen, was sich bei ihnen selbst in diesem Aufbau ergibt und wie viele von ihnen sich selbst umstellen werden.

 

Schon wдhrend ihrer ersten Tage lernte sie Erwin und Lotte kennen, zwei deutsche Kommunisten, die Vater schon seit seiner Jugend kannte. Beide konnten nicht emigrieren und blieben also in Deutschland. Die Hausbewohner wussten natьrlich genau, dass Erwin und Lotte Mitglieder  der Kommunistischen Partei waren. Doch weder in den ersten Jahren des Faschismus, noch wдhrend des Krieges verriet jemand Erwin und Lotte. Und sie brauchten nicht einmal die Wohnung zu wechseln. Aber als der Kanonendonner der auf Berlin vorrьckenden Roten Armee zu hцren war und Goebbels mit seinem wohltemperierten Bariton die Bevцlkerung pathetisch aufrief, vor dem Eintreffen der Russen mit dem Leben Schluss zu machen, kamen die Nachbarn zu Erwin und Lotte und baten um Rat. Was sollten sie tun? Lachend gab Lotte zur Antwort: ДDie jagen euch doch nur Angst einУ, sagte sie ihnen. ДDie Armee der Befreier kommt nach Berlin. Ihr kцnnt euch gar nicht vorstellen, was fьr Menschen zu euch kommen. Wenn ihr wollt, lege ich meinen ganzen Schmuck bei offenem Fenster auf das Fensterbrett. Und ihr werdet sehen, nicht einer wird etwas wegnehmen. Das ist doch die Armee des Landes, in dem der Sozialismus gesiegt hat.У

Und Lotte tat das wirklich. Und schon als der erste vorbeiziehende Rotarmist voller Verwunderung und Freude den feilgebotenen Schmuck einsackte und Lottes Lдcheln als Einladung fьr ein Schдferstьndchen definierte, rannte sie auf den Dachboden, um sich aufzuhдngen. Mit Mьhe konnte Erwin sie retten.

Lotte erklдrte sich dann alles auf ihre Art: Berlin hatte sich lange nicht ergeben und  Stalin tat es wohl Leid um die regulдren Truppen. Deshalb setzte er zum Sturmangriff Kriminelle ein, die zuverlдssigen Offizieren unterstanden. In der Tat unterbanden ja viele Offiziere soldatisches Marodieren, darьber wurde viel berichtet. So hatte sie sich ein Argument zugunsten ihrer Version zurechtgelegt.

Vater belieя Lotte in ihrem Irrtum. Und die Tochter konnte sich anfangs keinen Reim darauf machen, woher diese Dramatik kommt. Da waren Menschen nach Deutschland gekommen, Menschen wie du und ich, ganz verschiedenartige. Darunter kцnnen also auch Diebe und Sittenstrolche sein, das ist doch klar. Wen wundert das denn, wozu diese Panik?

Lotte nahm diese Einwдnde erschrocken und beleidigt auf. Man hatte ihr einen Traum genommen, den Glauben, dass auf der Erde Freiheit und Glьck herrschen wьrden und dass auf ihr Menschen wandeln, die zu Gemeinheiten oder sogar Morden gar nicht fдhig sind.

Abends, als sie im Bett lag und ьber das Lotte angetane Leid nachsann, kam der jungen Moskauerin plцtzlich das Gefьhl hoch, dass sie sich ьber den dummen Soldaten дrgerte, der fremden Schmuck stahl. Und wem hatte er das angetan? Einer deutschen Kommunistin, die ihm und allen Rotarmisten blind vertraute! So ein Blцdmann! Was fьr ein Idiot, sagte sie zu sich selbst. Aber schlieяlich war es aber so, dass sie im Unterbewusstsein auch das Unmцgliche ertrдumte, dass nдmlich alle Menschen des von ihr geliebten Landes geradezu heilig und guten Willens seien. Sie wьnschte sich eigentlich ebenfalls das Unmцgliche, warum sollte sie sich sonst ьber den Dieb empцren? Dieser hat, so zu sagen, die Ehre ihres Landes befleckt! Nun kann man denken, dass er sich in einem fremden, besiegten  Land anders benehmen sollte und auch kцnnte, als in seinem eigenen.

 

Eines Abends war eine alte, intelligente Frau, eine Musikerin, zu Besuch. Sie hatte Vater in seinen weit entfernten Jugendjahren, als er ein einfacher Arbeiterjunge war, erstmals mit dem ДKommunistischem ManifestУ bekannt gemacht, weshalb der Vater sie jetzt als seine geistige Erzieherin vorstellte. Seine Augen strahlten Freude und Dankbarkeit gegenьber einer Frau aus, die ihm Ц und davon war er ьberzeugt Ц die Gesetzmдяigkeiten der menschlichen Entwicklung offenbart hatte.

Die alte Frau saя mit hдngenden Schultern, gesenktem Kopf und erloschenen Augen am Tisch. ДWas ist mit dir los?У, fragte Vater besorgt. ДIch sammle SchlaftablettenУ, sagte die Musikerin langsam und apathisch. ДWozu?У, wunderte sich der Vater. ДSchlдfst du schlecht?У "Nein. Ich will sie alle auf einmal nehmen. Ich bin vцllig verzweifelt.У

Die alte Kommunistin war depressiv geworden, weil russische Soldaten ohne groяe Umstдnde all das in ihre Rucksдcke gestopft hatten, was ihnen im Hause der deutschen Bewohnerin  gefiel. Dabei waren sie nur eine Nacht dort einquartiert. Und in allem widersprachen sie ihrer Vorstellung. Sie raubten und soffen bis zum Umfallen und ьberhauptЕ

 

Wдhrend ihrer zweimonatigen Berliner Ferienzeit wurde fast in jedem Haus ьber die Russen geredet. Jeder berichtete das Seine. Dort hatten sie einen Baum mit unreifen ƒpfeln  geschьttelt, hier hatte jemand ein Buch mit Ledereinband gestohlen und woanders wieder hatten Soldaten auf einem Militдrlastwagen in aller Seelenruhe an einer nach altem Brauch am Wegesrand stehenden Milchrampe die Kannen mit der Morgenmilch, die eigentlich zur Molkerei gebracht werden sollten, mitgehen lassen. Den Deutschen war im Traum nicht eingefallen, diese unglьckseligen Milchkannen zu bewachen. Seit Jahrzehnten hatten sie diese einfach auf die Rampe am Weg gestellt. Und da hatten diese Soldaten also unter frenetischem Gebrьll die ihnen nicht gehцrenden vollen Milchkannen mitgenommen und waren sonst wohin damit gefahren.

ДErklдre doch mal, wie das mцglich istУ; forderte man erwartungsvoll von der aus Moskau Gekommenen. ДUnd dann klauen sie auch Uhren. Da gibt es keine Rettung. Entweder du versteckst sie oder du hast sie nicht bei dir.У

Sie selbst hatte noch nie eine Uhr besessen. Aber sie verstand, dass die russischen Soldaten nur allzu gern aus dem verfluchten Deutschland irgendein Souvenir mitbringen wollten. Und was konnte es besseres geben als Uhren? Vor einem jeden dieser ДRдuberУ lag das von Deutschen ausgeplьnderte Heimatland, vernichtete Stдdte, niedergebrannte Dцrfer, ermordete Verwandte und Freunde. Und fьr alle diese von Deutschen verьbten Grдueltaten ist denen eine Uhr zu schade? Was sind doch die Deutschen fьr ein geiziges Volk, wird wohl jeder zweite von denen geurteilt haben, der sich eine Uhr ДorganisiertУ hatte Ц entweder im Hause seiner Einquartierung oder auf menschenleerer Straяe in dunkler Nacht, wo ein дngstlicher Passant angehalten wurde.

So erklдrte sie sich selbst und anderen die Beweggrьnde der Soldaten, die Unmengen ƒpfel wegschleppten, Uhren, Milchkannen und Reifen stahlen. Ihre Argumente und Denkanstцяe dazu nahm man ihr nicht ьbel. Das mьndete dann in der Schlussfolgerung: ДNa klar, ьberall gibt es schlechte Menschen.У

Mit Erstaunen gewahrte sie, das Дgewцhnliche DeutscheУ ohne kommunistische Ideale  die moralischen Verfehlungen der Russen bedeutend gelassener hinnahmen. Entweder hatten sie sowieso nichts Gutes von ihnen erwartet oder sie verstanden es von Anfang an, dass es in allen Lдndern die unterschiedlichsten Menschen gab und so auch im Lande der Sieger.

Und sie, gestern noch glьhend vor Zorn ьber den Dieb, der Lottes Schmuck gestohlen hatte, erwischte sich dabei, die Дrдuberischen RussenУ zu rechtfertigen und dabei sowohl den Dieb als auch den Bestohlenen zu verstehen. Und dabei gab es keine Schuldigen, denn der Eine wie der Andere hatte unter dem Krieg zu leiden.

 

Mit groяem Interesse machte sie sich mit ihren Vettern und Cousinen bekannt, von denen es eine Menge gab. Und das war nicht erstaunlich, wenn allein die Groяmutter und Nдhereiarbeiterin der Doerwald-Familie acht Kinder hatte und die wieder mindestens drei oder vier. Sie alle zusammen, die Cousins und Cousinen, waren fast in gleichem Alter und hatten sich gegenseitig etwas zu erzдhlen. Nein, niemand hob den Arm zum Hitlergruя. Niemand von den direkten Nachkommen des finster blickenden und eigensinnigen Bergmannes und Groяvaters Doerwald, (den sie als damals Vierjдhrige nur wegen seiner feuchten Lippen und des strengen Tabakgeruchs in Erinnerung hatte, mit denen der Opa, seine unverzichtbare Pfeife dabei zur Seite gelegt, seiner Enkelin direkt auf den Mund zu kьssen versuchte), niemand von all denen war in der Hitlerjugend gewesen. Darьber berichtete sofort und stolz die Mutter ihrer Tochter schon am ersten Tag ihrer Berliner Ferien.

Der mьrrische Opa August Doerwald, der seine Liebe zum Enkelchen nicht zeigen konnte, weil diese  sich von seinen  Tabaklippen sehr energisch abwandte, war fьr seine Zeit ein Nonkonformist. Mit einer Halsstarrigkeit, die die kinderreiche Oma Lina Doerwald zur Verzweiflung trieb, organisierte er auf jedem Schacht, wo man ihn ungern einstellte, eine Gewerkschaftszelle. Dafьr jagte man ihn mit der gleichen Regelmдяigkeit aus der jeweiligen Unterkunft. So vagabundierte die Familie mit ihren wenigen Habseligkeiten und der groяen Kinderschar durch ganz Deutschland, von einer Bergarbeitersiedlung in eine andere. Die Kinder gingen hungrig zu Bett, die Groяmutter drehte jeden Pfennig zweimal herum und der Groяvater schuf immer wieder Gewerkschaftsgruppen. Die Doerwalds leisteten sich eine eigene Meinung und lebten nach dieser. Keiner der Nachkommen des alten Doerwalds ging in die Nazipartei, wie auch keiner der Jungen in die Hitlerjugend eintrat. Niemand Ц auяer einem einzigen Cousin. Diese Ausnahme trat freiwillig in die faschistische Jugendorganisation ein und auch jetzt noch, ein Jahr nach Kriegsende, verehrte er den Fьhrer, glaubte an seine Genialitдt, an die groяspurigen Plдne, Berlin durch eine monumentale architektonische Umgestaltung zu beglьcken. (Worauf sie boshaft mit der Frage reagierte: ДNa gut, nehmen wir an, Hitler wollte Berlin verschцnern. Aber was hat er in Wirklichkeit getan, na?У).  Und seltsamerweise war gerade er, diese Ausnahmeerscheinung, der klьgste und interessanteste Gesprдchspartner. Er hцrte sich nicht nur aufmerksam ihre Antworten an, sondern mischte sich hier schon mit Einwдnden gegen ihre Argumentation ein, stritt mit ihr, war sich nicht zu schade, eine Karte zu holen, aus der hervorging, dass seit dem Ersten Weltkrieg Deutschland immer mehr zusammenschrumpfte, England und Frankreich unverдndert blieben und nur die UdSSR immer mehr Territorien dazu gewann.

ДWas sagst du dazu? Da hast du den Imperialismus, den roten Imperialismus!У, sagte er als Sieger in der Diskussion.

Vergebens rannte die Studentin des fьnften Semesters der historischen Fakultдt mit ihrem angeeigneten Wissen und all dem dagegen an, was sie glaubte, dass die Aktivitдten eines Staates nicht nach offensichtlichen Grenzverдnderungen beurteilt werden kцnnen, sondern nach seiner Ordnung. Ob diese eine auf das Volk gestьtzte oder gegen das Volk gerichtete sei. Und folglich erweitern sich die Grenzen eines Landes, in dem die Arbeiter und Bauern die Macht ausьben im Interesse jener Werktдtigen, die sich der Union der Sowjetrepubliken angeschlossen haben. Und sogar auch derer, die auяerhalb ihrer Grenzen wohnen. Ihre Argumente prallten an ihm ab, wie auch seine an ihr; beide glaubten an ihre Fьhrer. Sie an Stalin, er an Hitler. Damals sah sie in Stalin den Genius. Und sie schдtzte sich glьcklich, dass sie in einer Epoche mit ihm lebte und dass gerade dieser Genius an der Spitze ihres Landes steht. Denn nur selten wird ein Genius geboren, ein Mal im Jahrhundert. Und wenn dann ein solcher als Staatsfьhrer agiert, dann ist das ein Wunder aller Wunder, ein unvorstellbares Glьck. Ein Genius weiя, was zu tun ist, damit die Menschen glьcklich werden.

Ihr Cousin  sah in Hitler auch einen Genius, mit dem er glьckhaft zu gleicher Zeit auf dieser Erde lebte. Heinz glaubte, dass der Fьhrer alle Deutschen glьcklich machen wollte und er wьsste, wie das zu geschehen habe. Aber man hatte ihn nicht verstanden.

Beide, ihren Cousin und sie, beseelte ein blinder Glaube. Ein jeden der seine, aber beide waren ьberzeugt Ц das waren absolute Gegensдtze. Aber beide wollten den Anderen verstehen und so fanden sie Gefallen aneinander. Ihm gefiel diese blonde, grьnдugige Cousine aus dem fernen Russland und ihr der blonde blauдugige Cousin aus dem fernen, doch jetzt nahe gerьckten Deutschland. Beide waren leidenschaftliche Debattierer, die Streit gerne hatten und auch verstanden, sich zu streiten Ц heiя aber ohne ьbel zu nehmen und mit  der Faehichkeit die Meinung des Anderen zu achten. Sie stellte fest, dass das ein allgemeiner Charakterzug vieler Doerwalds ist, laut denken und diskutieren, selbstvergessen, mit weitgreifenden Handbewegungen, wie die Italiener. Ein heiяes Blut unbekannter Herkunft bestimmte die Doerwaldsche Sippe.

Beim Streit mit ihrem Cousin fiel ihr ьberhaupt nicht ein, dass vor ihr genau der Verwandte stand, den der Schriftsteller-Aufklдrer in Berlin erwartete Ц ein junger Faschist, der dem Fьhrer glaubte und treu blieb. Und nur irgendein Zufall hatte dafьr gesorgt, dass Ilja nicht durch eine Kugel von ihrem Cousin Invalide geworden war. Fьr sie allerdings war  ihr Verwandte kein Faschist, sondern ein denkender, Wahrheit und Gerechtigkeit suchender sympathischer junger Mensch.  Wiewohl er Wahrheit und Gerechtigkeit nicht dort suchte, wo sie zu finden waren. Aber daran trug er keine Schuld, das glaubte sie ganz fest. Er war im faschistischen Deutschland aufgewachsen, durch eine faschistische Schule gegangen und trug nun in Gestalt eines Fьhrerglaubens, ein Durcheinander im Kopf herum.  Der Junge war ьberzeugt davon, dass der Fьhrer von den Grдueltaten der Faschisten in anderen Lдndern nichts gewusst habe. ДAn allem ist seine Umgebung schuldУ, so erklдrte er sich diese Verbrechen, die er nicht nur verurteilte, sondern die ihn erschreckten.

Aber die in der Nдhe sitzende wohlbeleibte, groяe und imposante Tante Frieda, дltere Schwester der Mutter und Besitzerin eines kleinen Ladens, hasste Hitler. Derartige Argumente waren fьr sie Winseleien eines kleinen Hundes, der sein Herrchen verloren hat. So unausgegoren wдren diese  Ideen und Gedanken. Tante Frieda hatte vier Sцhne und alle hatte der Krieg verschlungen.  ДIch war nicht in der Nдhe, als das Attentat auf dieses Schwein geschah. Wenn ich da gewesen wдre, hдtte ich den nicht verfehlt. So hasse ich diesen Schuften und Mцrder.У Mit der den Doerwalds eigenen Leidenschaft mischte sie sich ins Monolog ьber einen geliebten Fьhrer ein. ДUnd wie viele Menschen sind in den U-Bahnschдchten ertrunken, Kinder und Alte. Das hat diesen Bluthund nicht gekьmmert.У

Noch ein Jahr nach den letzten Kriegstagen zeigte die Berliner U-Bahn die Spuren jenes Todesdramas, das ьber die hereingebrochen war, die im Unterirdischen vor den Kampfhandlungen Schutz gesucht hatten. Auf Fьhrerbefehl waren die Spreeschleusen geцffnet worden, so dass das Wasser in die Schдchte drang und sie bis zur Decke fьllte. Sie hatte diese schmutzigen Flecke an der Wand in er U-Bahn gesehen und es wьrgte sie im Hals, als wenn sie das Grauen spьrte, das ein Mensch durchgemacht haben muss, der in diese tцdlichen Fluten geraten war. Es ging ihr unter die Haut, wenn sie sich vorstellte, wie er lange und beharrlich geschwommen war und dann mit erhobenem Kopf an die Schachtdecke stieя. Nach drauяen konnte solch ein Mensch nicht mehr schwimmen, denn er war vollen Seiten vom Wasser eingeschlossen. Ja, sie hцrte sogar seine Schreie.

Aber  ihr Cousin war unbeirrt der Meinung, dass der Fьhrer davon nichts gewusst habe. ДSelbst  als ein Hund krepierte, hat er noch Unschuldige mit ins Grab gerissen, dieser AbschaumУ, die imposante Tante Frieda konnte sich nicht beruhigen.

Als sie den Zornesausbruch der um ihre vier Sцhne gebrachten Mutter hцrte, dachte die 19-Jдhrige daran, dass Tante Frieda eben eine solche leidgeprьfte Frau ist, wie es auch die russischen sind, die in diesem verdammten Krieg alle oder einen Sohn verloren hatten. Nicht Tante Frieda hatte den Krieg begonnen, sie wurde ьberhaupt nicht gefragt. Und sie hatte ihn auch nicht gewollt. Aber sie konnte diese Katastrophe auch nicht verhindern, obwohl sie nachtrдglich von Herzen bereit war, am Attentat auf Hitler teilzunehmen. Aber wer hдtte ihr das erlaubt? Und von einer unglьcklichen Witwe die Fдhigkeiten zur Vernichtung Hitlers zu verlangen, erkьhnte sich die 19-jдhrige Missionarin nicht mal in ihren Trдumen, denn es wдre einfach dumm. Sie begriff, dass alles wirklich komplizierter ist, wie es ihr die arme Milli bereits an ihrem ersten Berliner Ferientag gesagt hatte.

 

Sie selbst hatte den Krieg im Internat der Komintern, weit weg von der Front ьberlebt, hatte keinen richtigen Angriff auf Moskau erlebt und allein die Luftalarme waren fьr sie die aufregendsten Kriegsmomente. Jetzt erfuhr sie hingegen vieles ьber die letzten Tage Berlins. Und sie erlebte diese Stadt als Ruinenfeld. Manches Mal, wenn Mutter und sie jemanden besuchen gingen, verschlug es sie in solche Berliner Gegenden, die eine einzige Wьste aus Ziegeln, Gerьmpel, Trьmmern und Wдnden ehemaliger Hдuser  waren, wo der Himmel durch leere Fensterhцhlen leuchtete Ц am Tage blau und sonnig, aber nachts schwarz und unheimlich. Und ihre Altersgenossen, die Kinder der Freunde ihres Vaters, hatten wдhrend des Krieges in dieser Stadt gelebt: wдhrend der Bombenangriffe, als sie in Flammen stand und als die sowjetischen Truppen einrьckten.

Ein Freund  aus zarten Kindertagen, den man im gleichen Kinderwagen zusammen mit ihr in den Kindergarten gefahren hatte, musste sich einmal mit der ganzen Schulklasse  wдhrend eines Luftangriffs in einem Luftschutzraum in Sicherheit bringen. Nach fest eingeprдgten Regeln des Luftschutzes mussten sich die Kinder dort bis zur Entwarnung aufhalten. Aber irgendetwas trieb Karl und einen Schulkameraden dazu, den Bunker zu verlassen und auf die Straяe zu gehen. Zwar wollte sie die Klasse nicht ziehen lassen und der Lehrer erinnerte an die Vorschriften. Aber sie hцrten nicht, gingen nach oben und liefen weg. Sie rannten eine Straяe entlang. Zu beiden Seiten brannten und qualmten die Hдuser. Da und dort rannten sie ьber glьhende Ziegel, Reste von Fensterrahmen und der Teufel weiя was sonst noch alles. Aber keine Kraft der Welt konnte sie veranlassen, zurьckzugehen in den Luftschutzbunker.  Sie rannten nur noch fort und fort, was ihre Krдfte hergaben. Und dann Ц waren sie die einzigen der Klasse, die ьberlebt hatten. Die anderen wurden in den Trьmmern des Hauses begraben, das einen Volltreffer abbekommen hatte. Und das war eine Klasse, in der niemand in der Hitlerjugend war, die auf diese Weise ihre Abscheu vor dem Faschismus demonstriert hatte und gemeinsam dieser  faschistischen Organisation ferngeblieben war. Das war alles, was sie tun konnten. Und gemeinsam sind sie auch umgekommen, wenngleich nicht durch die Hand ihrer wirklichen Feinde. Kluge, mutige, siebzehnjдhrige Jungen und ihr Lehrer.

 

In den Tagen, als Berlin fiel, knapp zwei Wochen, bevor sein Sohn aus Moskau kam, starb ihr zweiter Opa in Berlin. Opa Hermann, der wдhren eines  Luftalarms von einem Herzanfall in Angst getrieben war, schaffte es noch bis zu seiner Wohnungstьr und  brach da zusammen. Er wollte wohl um Hilfe bitten, aber die Nachbarn waren schon im Luftschutzkeller. Und selbst im Kriege kьmmerten sich die Deutschen nicht besonders umeinander.  Ob der alte Hermann ьberhaupt in den Keller gelangen kann, um vor den Bomben sicher zu sein, das war seine persцnliche Sache. Und er war sowieso schon lange nicht unten gewesen, denn der Hunger hatte ihn  schon ganz geschwдcht. So hatte niemand seinen Tod bemerkt, bis seine Tochter, Tante Lieschen gekommen war, um nach dem Vater zu sehen, der durch seine Einsamkeit menschenscheu geworden war. Sie war zu Fuя gekommen, vom anderen Ende der Stadt, durch rauchende Trьmmerhaufen.

Eine Woche nach der Beerdigung von Opa Hermann waren sowjetische Truppen dann in Berlin.

Einige Tage hatte Tante Lieschen, die sonst Wagen der Berliner U-Bahn reinigte, mit ihrem Sohn und den Nachbarn im Keller ihres Hauses verbracht, wдhrend auf den Straяen Berlins gekдmpft wurde. Hunger und Angst quдlten sie. Angst davor, beim Verlassen des Kellers auf einen russischen Soldaten zu stoяen, der sie auf der Stelle umbringen wьrde. Durch einen kleinen Spalt beobachteten sie die Straяe. Und eines Tages sahen sie  einen Soldaten. Er fuhr mit einer Feldkьche mitten auf der Straяe entlang, hatte eine groяe Schцpfkelle in der Hand und schlug mit dieser auf den Kessel. Dabei rief er: ДFrau, Kinder! Essen! Essen!У Sie verstanden das zwar, glaubten es aber nicht. Sie ьberlegten: Kann das eine Falle sein? Aber der Soldat haute weiter auf den Kessel und rief immerzu Дessen!У. Schlieяlich wagte sich Tante Lieschen, deren Bruder ja in Moskau wohnte, heraus.  Sie rьstete ihren 16-jдhrigen Sohn mit einem Topf aus und lies ihn sein Glьck zu versuchen. Er sollte aber auch bereit sein, im Falle der Fдlle  schleunigst wegzurennen.. Der 16-Jдhrige kam mit einem Topf voller Kascha in den Keller zurьckЕ

Und dann erfuhr Tante Lieschen ein paar Tage spдter, dass sie Witwe ist. Der hoch wie ein Wachturm gewachsene, gutmьtige Tollpatsch und schon nicht mehr ganz junge Alfred litt an einem Magengeschwьr. (In ihrem Moskauer Zimmer stand bis zuletzt eine Spielzeugkiste Ц fьr sie mit lustigen Tieren bemalt Ц das war Onkel Alfreds Werk).  Das Geschwьr hatte ihn vor der Einberufung gerettet. Aber in der Endphase des Krieges hatten sie ihn trotzdem eingezogen. Wegen Frontuntauglichkeit war er nach Norwegen zur Bewachung eines Konzentrationslagers geschickt worden.  Und genau an dem Tage, an dem er dort eintraf, fand im KZ eine Aufstand statt. Die Gefangenen befreiten sich und tцteten die gesamte Wache, darunter auch Onkel Alfred. Tante Lieschen war vor Kummer und Schrecken auяer sich. Sie war doch eine Antifaschistin. Und die Tatsache, dass ihr Alfred zu einer Wacheinheit gekommen war, erschreckte sie nicht weniger als sein Tod. Sie jammerte und stellte allen die Frage: ДWie kann das nur sein? Im letzten Moment des Krieges stirbt er durch Menschen, denen er niemals etwas Schlimmes getan hдtte. Er hat doch diesen Hitler gehasst! Mein Gott, was hat er nur durchmachen mьssen! Er war doch so ungeschickt, und die Gьte selbst

Aber einmal war es der Mutter zu viel, das ewige Gejammer ihrer Verwandten anzuhцren und sie sagte barsch: Д Bist selbst daran Schuld! Du hast ja mitbekommen, dass der Krieg zu Ende geht. Also muss man nicht noch der Einberufung folgen. Du hдttest Alfred einfach verstecken sollen.У

ДUnd wo? Wo hдtte ich ihn verstecken kцnnen?У, schrie Tante Lieschen. ДWer hдtte ihn wohl aufgenommen? Na, wer?У Und in ihrer Stimme schwang soviel Resignation, dass klar war, Tante Lieschen war zu diesem Ausweg nicht fдhig gewesen, sie hдtte ihren Alfred nicht retten kцnnen.  Natьrlich war sie nicht schuldig am Tode ihres Mannes. Und die Mutter hatte mit ihrer kategorischen Hдrte Unrecht. Obwohl sie selber bestimmt eine Lцsung gefunden hдtte. Sie hдtte unbedingt ein Versteck entdeckt und wenn es in einer Jauchegrube zwischen Ratten und Ruinen gewesen wдre. Aber Tante Lieschen war nicht aus diesem Holz geschnitzt. Sie war weich, schwach und nicht in der Lage, weder den Menschen noch dem Schicksal zu trotzen. Und somit war hier nichts zu machen gewesen. Absolut nichts.

 

So offenbarten sich der 19-Jдhrigen verschiedenartige Menschen Ц alle waren sie Deutsche, aber untereinander ьberhaupt nicht дhnlich. Und sie waren so ganz anders, als sie sich das im fernen Moskau vorstellen konnte. Nun brauchte sie sich nicht mehr die Frage zu stellen: ДWie konnten sie nur mitmachen? Warum haben sie Hitler nicht gestьrzt?УSie  brauchte niemanden mehr Schuldzuweisungen vorzunehmen. Sie hatten selber gelitten. Sie wurden selber gequдlt. Sie starben. Sie waren Opfer. In den furchtbaren Jahren hatten sie gelernt, am Leben zu bleiben, aber nicht Widerstand zu leisten.

Was konnten Erwin und Lotte zu zweit, aber dennoch allein, tun, auяer heimlich und regelmдяig an einem geheimen Platz Essen fьr russische Kriegsgefangene zu deponieren, die im Betrieb in der Nдhe des Hauses der beiden Kommunisten-Idealisten Zwangsarbeit leisteten? Was denn noch angesichts dessen, dass die Mehrheit ihrer Nachbarn die Russen mehr fьrchteten als die deutschen Nazis? Und sie hatten eine solche panische Angst, dass einige mit ihren Kindern sogar den Freitod wдhlten, als die Russen nach Berlin kamen!

Was konnten die Nдherinnen  in einer kleinen Berliner Werkstatt mehr tun, als einige Jahre lang bei sich Tante Emma zu verstecken, die Mutter eben des Freundes aus Kindertagen, der sich mit seinem Freund als einzige vor dem Bombentod gerettet hatte. Und als dann bei einer Routine-Kontrolle der Werkstatt durch die SS sie es nicht schafften, was sie schon so oft davor getan hatten, nдmlich die ьber ihre Nдhmaschine gebeugte Emma hinter ihrem Schulterschluss zu verstecken Ц diese deutsche Kommunistin und deutsche Jьdin?

Was konnten sie tun, als die schweigende Emma still die Werkstatt unter dem Gebrьll der jungen Hьnen verlieя? Sich etwa auf diese stьrzen und Emma ihren Klauen entreiяen? Und was dann?

Und was konnte Emma selbst tun Ц dann im Konzentrationslager? Als man sie zum Appellplatz trieb und nach einem teuflischen System, mal jeden Zehnten, mal jeden Dritten fьr die Gaskammer aussortierte und niemand wusste, wann er an die Reihe kam? Was konnte sie tun, als an den ьblichen weiblichen Tдuschungsmanцvern der Kinder teilzunehmen, die mit ihnen auf der Pritsche schliefen? Die Erwachsenen wussten natьrlich genau, was es heiяt, als Dritte, Siebte oder Zehnte aussortiert zu werden. Aber fьr die Kinder war es ein groяes Vergnьgen, wenn Mьtter, Omas oder fremde Tanten abgezдhlt wurden , denn  in einem Chor wiederholten die Nachgebliebenen den Kindern, dass die Abgezдhlten jetzt in ein wundervolles Land geschickt werden, wo es alles im №berfluss gibt: Brot und Kartoffeln, ja sogar Milch und Bonbons. Und so warteten die Kinder ungeduldig, wann sie an die Reihe kдmen. Als einmal die Wahl auf ein fьnfjдhriges Mдdchen fiel, das mit seiner Mutter auf der unteren Etage der Pritschen unter Tante Emma schlief, kletterte das Mдdchen zu Emma hinauf, um ihre Freude mitzuteilen und zu bedauern, dass die gute Tante nicht auch mit ihnen fдhrt. Was konnte die frьhzeitig gealterte Tante Emma tun, als dem Kind die Freude zu lassen und die kleine naive Kinderseele mit den Worten zu trцsten: ДSei nicht traurig. Ich werde auch bald dorthin kommen. Ganz gewiss.У Und das Mдdchen kьsste Tante Emma innig fьr dieses Versprechen. Was konnte sie noch tun?  Auяer dessen, dass sie als treue Kommunistin nicht aufhцrte den Pritschennachbarinnen zu erklдren, was Kommunismus bedeutet?

Und ihr Sohn, eben der Altersgenosse von ihr, mit dem sie im gleichen Kinderwagen zum Kindergarten gefahren worden war? Was konnte jener schon machen, er, der selbst im Arbeitslager saя, weil seine Mutter Jьdin war? Und was konnte er tun, der dann wieder in der Schulbank saя, weil sein schon lange verstorbener Vater  Deutscher war? Nun, er konnte der Hitlerjugend fern bleiben, was er ja tat und zwar nicht allein, sondern mit der ganzen Klasse. Und was blieb dem Halbwьchsigen mit seinen 16 Jahren noch, der nun ganz alleine war und sich durchs Leben schlug, da man seine Mutter ins KZ gesteckt hatte?

 

Gedanklich durchforstete sie das Leben eines Jeden, den sie in ihren Berliner Ferientagen begegnete. Sie versuchte sogar, mit dessen Augen die Welt zu sehen. Und sie begriff: die Menschen, die aus verschiedenen Grьnden nicht zum Widerstand fдhig waren, ьberwogen bei weitem die Zahl jener, die zu diesem Kampf bereit waren. Noch wusste sie nicht, ob das etwa eine Gesetzmдяigkeit der menschlichen Gesellschaft ist oder nicht, zumal damals noch niemand ьber Anpassung und Nichtanpassung diskutierte. Fьr sie war erschreckend, sich von der Kraftlosigkeit normaler Deutscher gegenьber dem Faschismus ьberzeugen zu mьssen. Doch an ihrer Kraftlosigkeit waren sie nicht schuld. Das fьhlte ihr Herz, das nicht gleichgьltig und nicht gefьhlskalt war. Mit jedem seinen Schlag, jedem Blutstropfen, lцsten sich frьhere Stereotypen auf. Ihre Weltsicht wurde weiter.

Gleichzeitig schloss sich etwas in ihr. Sie spьrte instinktiv, dass sie dem Schriftsteller-Aufklдrer nichts ьber das Gesehene und Gedachte berichten darf. Er wьrde es nicht begreifen. Und es wдre gefдhrlich.

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Ihr Vater hatte auch noch  ihre Teilnahme an einer Konferenz junger Kommunisten vereinbart, die aktive Jugendarbeit leisteten. Der Vater wollte, dass seine Tochter in den zwei Monaten ihrer Ferien in Berlin so viel wie mцglich ьber das Leben erfuhr, das ihre Eltern und Freunde fьhrten. Sie sollte mit den Problemen vertraut werden, vor denen  sie selber  nach ihrer Heimkehr standen. Denn nach Beendigung ihres Studiums wьrde sie ja sowieso auch nach Deutschland zurьckkommen.

 

Und so fuhr sie zu dieser Konferenz.

Der Zug schlich lange dahin. Alle Konferenzteilnehmer saяen in einem Wagen, der ein seltsames Exemplar war.  Die Sitze waren nicht in einer Reihe, sondern entlang der Fenster gestellt, so dass sich die Fahrgдste gegenьber saяen. Alle sahen sich, aber niemand sprach mit dem Anderen.

 

Neben ihr saя ein 30-jдhriger Mann, der nach einer halben Stunde ein junges Mдdchen auf seine Knie nahm. Die ganze Zeit flirtete er mit seiner Begleiterin, tдtschelte dieser Margot die Wangen und flьsterte ihr irgendetwas ins Ohr. Darauf kicherte Margot geziert, ohne sich von seinen Knien zu erheben. In Deutschland, das war ihr schon aufgefallen, kьsste und umarmte man sich in aller ÷ffentlichkeit; in der U-Bahn, im Bus und jetzt gerade auch im Zug. Sie hatte sich an ein derartiges Verhalten noch nicht gewцhnt, aber wenn sie es so wollten, na sollen sie. Diese Nachbarschaft machte ihr zwar nichts aus, gefiel ihr andererseits aber  auch nicht. Sie war sich ganz sicher, dass sie so wie Margot nie so  offen mit einer so kurzen Bekanntschaft herum turteln wьrde, zumal es vor aller Augen geschah. Selbst Ilja hatte sie es nicht erlaubt, auf der Straяe Hand in Hand zu gehen. Und sie hдtte sich Ilja auch nicht auf die Knie gesetzt, wenn sie nicht unter sich waren.  Doch sollte Margot tun, was sie wollte, das war ihre Sache. Und seine auch. Sie schaute einfach nicht zu den beiden hin, schon deshalb, um nicht taktlos zu sein.

An ihrer anderen Seite saя eine ernste junge Frau mit ihrem vierjдhrigen Sцhnchen. Der Kleine lief frцhlich durch den Wagen und jeder, zu dem er kam, wollte ihn hoch nehmen und auf den Schoя setzen. Manchen gelang es, von anderen wieder lief er weg. Die kindlichen Neckereien verkьrzten allen die Zeit. Bald hatte der Kleine aber genug und begann zu quengeln: ДWann sind wir da? Wann hдlt der Zug an? Ich will nicht mehr fahren. Ich habe Durst.У So ging das in einem fort.

Da fing sie an zu bellen.

Sie konnte nдmlich Tierstimmen imitieren, selbst exotische hatte sie im Repertoire. Hundegebell, Katzenmiauen, Schafblцken, Hьhnergackern. Beim ersten Hundegebell hielt der Kleine inne. Sie bellte nochmals. Da bьckte sich der Junge erwartungsfroh und suchte den Hund unter den Sitzen. Doch das schцnste war, dass die Mitreisenden, die weiter von ihr entfernt saяen, auch anfingen, unter ihre Sitzbдnke zu schauen, um den Hund zu entdecken. Und selbst der Mann, der bis jetzt mit dem Streicheln von Margot beschдftigt war, unterbrach seine Tдtigkeit und suchte mit den Augen den Wagen nach dem Hund ab.

Sie lдchelte zufrieden.

Aber als sich ihr Nachbar erneut Margot widmete, bellte sie wieder. Diesmal nicht verdeckt und leise, sondern offen und laut. Jetzt bekamen alle mit, wer hier den Hund spielte. Auch der Kleine entdeckte, dass das Bellen von der Tante kam. Glьckselig warf er sich an sie und  knцpfte eilig ihre Jacke auf. Er hatte beschlossen, dass sich der Hund an der Brust dieser Tante versteckte. Ihr tat der naive Junge leid und sie erklдrte ihm, dass sie die Hundesprache beherrsche. Enttдuscht wandte sich der Steppke nun von ihr ab und suchte auf dem Schoя seiner Mutter Zuflucht. Voller Mitgefьhl mit dem enttдuschten Kind, das bei ihr keinen Hund finden konnte, schielte sie fьr eine Sekunde  auf ihren Nachbarn und bemerkte, wie zдrtlich er das Kind betrachtete und voller mitleidigem Verstдndnis ihm zulдchelte.

 

Vom Bahnhof bis zu dem kleinen Kurort, wo die Konferenz stattfinden sollte, fuhren sie auf einem offenen Lastwagen. Sie liebte derartige Fahrten und stand dann am liebsten am Fahrerhaus, wo man wдhrend des Weges den Fahrtwind im Gesicht spьren konnte. Nun ergab es sich, dass ihr Sitznachbar ebenfalls solch einen Platz bevorzugte und sie jetzt nebeneinander standen.

ДWoher kommst du?У, fragte er, wobei er ihr sein Gesicht zuwandte und ihr direkt in die Augen sah.

ДAus MoskauУ, antwortete sie, ohne seinem Blick auszuweichen.

ДDas kann nicht wahr sein!У Er war skeptisch und glaubte wohl, dass er erneut hinters Licht gefьhrt werden sollte wie vorhin mit dem Hund.

ДKann aberУ, sagte sie nur, ohne auf Einzelheiten einzugehen und wandte sich ab.

Sie wollte sich nicht unterhalten. Sie gab sich ganz dem Gefьhl der schnellen Fahrt hin, fing mit den Augen die nдher kommenden Ferne auf, atmete durch die Nase den Fahrtwind ein und genoss mit dem ganzen Kцrper die Kьhle der entgegen strцmenden Luft. Hier war sie ganz bei sich selbst, getrennt von allen, die auf dem Lkw saяen und vor allem von ihm, diesem 30-jдhrigen Mann, der so vertraulich mit dieser Margot getan hatte und jetzt nicht in ihrer Nдhe saя. Margot war gekrдnkt, das hatte sie bemerkt.

Eine Weile lieя er sie die schnelle Fahrt genieяen. Dann aber setzte er sein Verhцr fort. ДUnd wo wohnst du in Moskau?У, fragte er um zu erfahren, ob sie ihn auf die Schippe nimmt oder die Wahrheit sagt.

ДIm LuxУ, antwortete sie lakonisch, ohne sich ihm zuzuwenden.

ДDort war ich auch und habe sogar ьbernachtetУ, sagte er in aller Ruhe aber auch mit einem spцttischen Unterton. Denn nun war ihm klar, dass ihre Neugier bestimmt geweckt war.

ДDas kann nicht wahr seinУ, zweifelte sie nun wirklich und sah ihn an.

 ДKann aberУ, sagte er nun genauso trocken und ohne auf Einzelheiten einzugehen. Dafьr fragte er nun: ДBist du eine Delegierte aus Moskau zur Konferenz, oder wie? Wer bist du eigentlich?У

ДIch bin StudentinУ, sagte sie, wдhrend sie ihn immer noch fragend ansah. ДIch bin keine Delegierte. Ich mцchte mir das nur ansehen und zuhцren, weil es mich interessiert.У

Aus ihren Antworten wurde er ьberhaupt nicht klug. Sie ihrerseits hatte ьber ihn auch gar nichts erfahren, stellte aber auch keine Fragen. Bereits von Kindheit an hatten ihr die Eltern eingeschдrft, keine unnцtigen Fragen zu stellen. Eine Erfahrung sowohl aus der illegalen Arbeit in Deutschland als auch des Jahres 1937 in Moskau. Auch der Mann schwieg. Er wollte wohl auch nicht in fremdes Leben eindringen und begriff selbst nicht, wieso er vorhin solche forschenden Fragen gestellt hatte.

Vielleicht, weil es ein hьbsches Mдdchen war? Das stand erstmals fest. №ppige, lockige Haare, einfach wunderbar. Und die Haut von Gesicht und Hals zart wie bei einem Kind. Dafьr war das Kleid schlecht genдht. Es sah aus, wie gewollt und nicht richtig gekonnt. Aber wiederum unterstrich es die Figur. Und ьberhaupt hatte das Mдdchen keine ьble Figur. Gut, dass die Jacke nur ьber die Schultern fiel, also fьrchtete sie keinen Wind. Und zu bellen hatte sie auch irgendwo gelernt, dieses kleine Wunder. Er war guter Stimmung und lдchelte. Sie wandte sich ihm zu, erneut erstaunt, sagte aber nichts. Schweigen kann sie, ist auch gut. Und fest steht sie auf den Beinen, sogar ohne sich bei jeder Unebenheit auf dem Dach des Fahrerhauses abzustьtzen.

Aufmerksam und unauffдllig beobachtete er sie. Ihm gefiel es, dass sie neben ihm im Wind stand. Ihr aber auch. Auch ihr gefiel es, mit ihm zusammen den Fahrtwind zu spьren. Aber das gab sie sich nicht zu.

 

Und dann begannen drei anstrengende Arbeitstage, in denen sie sich in einer vцllig ungewohnten Situation wiederfand. Und viele neue Eindrьcke strцmten auf sie ein.

In einem kleinen Saal eines Strandhotels hatten sich etwa 30 Konferenzteilnehmer versammelt. Im Prдsidium saяen an einem einfachen Tisch Wilhelm Pieck, der noch ganz junge Erich Honecker und jemand, der ihr unbekannt war. Und an der Seite, eng an der Wand, saяen ebenfalls an einem gewцhnlichen Tisch zwei Offiziere der sowjetischen Besatzungstruppen. Viele Delegierte wandten sich direkt  von der Tribьne an die Vertreter der Roten Armee. Sie baten sie um die Beantwortung von Fragen, die sie selbst von der Jugend hдufig gestellt bekamen. Wie, zum Beispiel, soll man erklдren, warum die UdSSR sich Kцnigsberg genommen hatte, wo es doch niemals zum Territorium Russlands gehцrte? Und ьberhaupt, warum verдnderte die UdSSR ihre Grenzen, wo doch Lenin stets fьr einen Frieden ohne Annexion und Kontribution eintrat? Und ein Delegierter fragte, warum die Verantwortung und alle Last allein auf Deutschland abgeladen wird, der Krieg doch aber ein Produkt des Imperialismus sei? Und warum reagierten die sowjetischen Besatzungstruppen so langsam auf verschiedene Gerьchte, wie zum Beispiel ьber die Verschleppung deutscher Kinder nach Russland? Ist es etwa zulдssig, dass die Gerьchte in der Bevцlkerung den Glauben sдen, dass die Rotarmisten Kinder rauben? Und nun fьrchteten sich die Eltern in der Stadt, in der der Redner wohnt und arbeitet, die Kinder auf die Straяe zu lassen! Und auяerdem begreift die Jugend nicht, warum die Rotarmisten angesichts des aktiven Kampfes gegen den Schwarzen Markt an diesem teilnehmen und die Offiziersfrauen andauernd dorthin gingen?

Die Vertreter der sowjetischen  Besatzungstruppen  schrieben die Fragen schweigend in einen Notizblock, stritten sich nicht, mischten sich nicht ein, sagten kein Wort, um die Zweifel an ihren Genossen der Partei, Ц zwar die Partei eines anderen Landes Ц aber immerhin einer kommunistischen, zu zerstreuen.  Sie ьberlieяen es den deutschen Genossen, namentlich dem verehrten Genossen Pieck, auf die Дkonfliktbeladenen FragenУ zu antworten.

Die Diskussionsbeitrдge wurden immer leidenschaftlicher und ungehemmter. Der Tenor aller Beitrдge war: es ist sehr schwer, mit der Jugend zu arbeiten, selbst mit denen, die Mitglieder der Partei waren. Die Jugend interessiere sich absolut nicht fьr Politik. Es ist nahezu unmцglich, die Jugend in eine Versammlung zu bringen, nur dann, wenn zuvor und danach Tanz angesagt ist. Und wenn schon jemand bereit ist zu kommen, dann ist ihnen der Vortrag zu lang und Fragen dazu werden fast ьberhaupt nie gestellt. Alle Fragestellungen seien nur lдstig. Und das schlimmste sei, dass es der Jugend, die in die Partei eingetreten sei, an Liebe zu dieser mangele und kein Verantwortungsgefьhl bestehe. Dazu kommt noch das fehlende Verstдndnis zwischen jungen und alten Parteimitgliedern, was darauf basiert, dass die Jugend kein Interesse am geistigen Leben verspьre. Was die Jugend allein begeistert, seien Tanzveranstaltungen und sexuelle Abenteuer. Und das Verhдltnis zur Sowjetunion sei mehrheitlich negativ.

Sie hцrte die Reden der Delegierten und wunderte sich, mit welcher Offenheit sie die Situation in ihrer Partei beschrieben. Das war sie nicht gewohnt. In Moskau wurden alle aktuellen Fragen und Zweifel nur unter vier Augen mit Ilja besprochen; vielleicht noch im Kreise engster Freunde, aber niemals auf einer Komsomol- oder Parteiversammlung. Und hierЕ

Ihr gefiel diese Atmosphдre. Und sie beneidete die Delegierten, ohne zu ergrьnden, warum sie das eigentlich tat.

Nach dem Abendessen bildete sich an ihrem Tisch im Speisesaal ein Diskussionsklub. Hallo, eine aus Moskau! Dann prasselten Fragen zum Leben in der UdSSR und sie berichtete. Die jungen deutschen Kommunisten hatten konkrete Fragen. Viele drehten sich um ihr Studentenleben. Kцnnte sie weiter studieren, wenn sie heiratete? Wie ist ihre materielle Lage? Gibt es ein Stipendium? Prima! Und sind die Fachbьcher teuer? Einer fragte, warum es in der UdSSR nur eine Partei gдbe. Was sei das fьr eine Demokratie? Ein anderer wollte wissen, warum es unter den russischen Offizieren so viele Antisemiten gдbe?

 

In diese Gesprдche brachte sie propagandistische Tцne ein weil sie noch sehr jung war und es ihr angenehm war in sich selbst einen Propagandisten zu entdecken. Wie sie erst spдter begriff, hinderte sie das aber daran, grьndlicher ьber die gestellten Fragen nachzudenken. In ihren Antworten wollte sie immer alles rechtfertigen und so erklдren, dass eine Liebe zu ihrem Land erwuchs. Und so suchte sie sofort eine Antwort immer nur zugunsten der UdSSR. Bei allem Reden und Diskutieren gingen sie scharenweise ans Meer, schlenderten den Sandstrand entlang, lauschten den Meereswellen und gingen wieder zum Frage-Antwort-Spiel ьber. So vergingen zwei Abende.

 

Dann kam der dritte und letzte Abend heran. Erneut antwortete sie nach dem Abendessen selbstvergessen auf die Fragen von vier Delegierten, die sich an ihren Tisch gesetzt hatten. Da bemerkte sie plцtzlich in einiger Entfernung an einem Tisch ihren Reise-Nachbarn, der aufmerksam ihrem Wortfluss zuhцrte. Sie antwortete noch auf ein paar Fragen, als er sich entschlossen erhob, auf sie zukam und sagte, indem er ihr intensiv in die Augen sah: ДEs ist genug. Heute kommst du mit mir ans Meer und antwortest auf meine Fragen. Nur auf meine.У  Komischerweise erhoben sich daraufhin die vier Mдnner sofort und strebten dem Ausgang zu. Und sie, sonst immer eigenstдndig, ja eher widerspenstig, entdeckte an sich eine bisher nicht gekannte Unterwьrfigkeit und folgte seinem  Hinweis ohne Einwдnde, stand auf und ging zum Ausgang. Mit ihm.

 

Die Sonne sank bereits, aber es war noch hell. Wдhrend sie sich dem Meer nдherten, fragte er, warum sie alle Genossen siezte und nicht duzte. ДDu bis doch Genossin?У

ДJa, ich bin Komsomolzin, aber bei uns ist es einfach so ьblich, Mitglieder der Partei oder andere zu siezen.У

ДNein. Mich wirst du duzen. Klar?У

Sie wunderte sich keineswegs darьber und nickte einverstanden mit dem Kopf. Einige Zeit gingen sie schweigend. Jeder genoss fьr sich den langsamen Untergang der Sonne, die sich von diesem Tag verabschiedete. Und dann stellte er seine erste Frage: ДSag mal, stimmt es, dass in der Sowjetunion eine Frau Kapitдn auf Groяer Fahrt werden kann?У

ДDas stimmt.У

ДUnd Flugzeugfьhrerin?У

ДAuch das kann sie werden.У

ДUnd Stahlgieяer und Transportarbeiter?У

ДKann sie. Sie kann alles werden, was sie mцchte.У

ДUnd du findest das gut?У

Sie fand seine Fragen naiv, wie die der meisten anderen an den vergangenen Tagen. Er wechselte aber innerhalb einer Sekunde in einen giftigen Spott und lauerte interessiert auf ihre Antwort. Dabei beobachtete er sie genau, prьfte wohl ihre Fдhigkeit, selbstдndig zu denken und radierte in ihr den Anflug der Propagandistin fьr eine fortschrittliche Gesellschaftsordnung aus. Und weil sie mit ihrer Antwort auf seine zuletzt gestellte Frage zцgerte, fragte er nochmals: Д Ist das nun gut?У

"Ja, ich glaube, dass eine Frau das Recht hat, das zu werden, was sie mцchte und dem Manne gleichberechtigt ist. Eine jede mag selbst ьber ihr Schicksal entscheiden. Aber deswegen muss sie ja nicht unbedingt Transportarbeiterin werdenУ, setzte sie schon etwas leiser hinzu.

Und sie erinnerte sich daran, wie sie selbst als 17-Jдhrige drei Monate lang Holz in einem Fluss flцяte. Das hatte zur Folge, dass sich fьnf Mдdchen durch die schwere Arbeit ьberanstrengten und dadurch niemals gebдren werden.

Er spьrte, dass sie dunkle Erinnerungen bewegten und fragte: ДWoran denkst du plцtzlich?У

Sie erzдhlte es ihm.

ДDa siehst du selbst, dass es дuяerst wichtig ist, den Frauen solche Mдnnerarbeit zu verbieten. Frauen kцnnen nicht alles das machen, wofьr Mдnner da sind.У

ДNein, wenn es die Frau selbst will, geht esУ, wehrte sie eigensinnig ab. Schlieяlich war sie in ihrem Semester als Anwalt weiblicher Gleichberechtigung bekannt.

ДUnd wenn sie nicht will, man sie aber zwingt?У Er trieb sie ein weiteres Mal in die Ecke.

Zwar konnte sie schnell  denken, aber bei weitem nicht schnell etwas eingestehen und schon gar nicht die Richtigkeit eines anderen Argumentes sofort anerkennen. So zuckte sie mit den Schultern und blieb die Antwort schuldig. Er, der 30-jдhrige erwachsene Mann bestand auch nicht darauf und schonte das Selbstbewusstsein des 19-jдhrigen Mдdchens.

Und sie begriff: er war klug.

Bisher hatte sie sich nur mit Ilja ьber persцnliche Ansichten austauschen kцnnen. Aber auch er wusste nicht auf alle Fragen eine Antwort.

Und manchmal trieb sie  ihn mit ihren Fragen in die Enge.

Aber hier, am Ostseestrand, wurde sie in die Enge getrieben.

 

Jetzt gingen sie schweigend ьber den sandigen Strand. Die See дhnelte nicht dem, was sie sich vorstellte, wenn sie ans Schwarze Meer dachte. Hier herrschte nicht sanftes, stilles Wellengeplдtscher, sondern die schreckliche Strenge der Elemente. Von den Wellen, die auf den Strand trafen, ging eine Kдlte aus. Es schien, als knurrte das zurьckrollende Wasser. Das Wasser umspьlte nicht nur den Strand, sondern warf aus Meerestiefen allerlei Zeug ans Ufer. Nicht nur kleine Muscheln und Tang, sondern auch Draht, undefinierbares Eisenzeug, das mit Draht umspannt war und viele sonderbare Sachen, wie beispielsweise dort diese Kugel, die halb verrostet im Sand lag.

Sie blieb  an dem unbekannten Ding stehen mit der  sturen Absicht  es irgendwohin zu schleudern. Aber ehe sie so richtig ausholen konnte um das Ziel mit dem  Fuя zu treffen, hцrte sie seinen  empoehrten Ausruf: ДWas machst du da?У

In der gleichen Sekunde umfassten seine Hдnde wie stдhlerne Klammern ihre Schultern und stieяen sie mit voller Wucht von dem unglьckseligen rostigen Ding weg. Sie wдre fast gefallen, als sie sich einige Meter von dem Ort wiederfand, an dem ihr Fuя in der Luft fцrmlich hдngen geblieben war. Sie begriff nichts. Warum  solche Angst? Na gut, sie hatte den Fuяtritt nicht ausgefьhrt. Aber was war daran so schlimm? Sie blickte ihn mit Augen an, die absolutes Unverstдndnis ausdrьckten.

ДJetzt sehe ich, dass du tatsдchlich aus einem anderen Land kommst,У sagte er und beruhigte sich allmдhlich. ДBei uns weiя jedes Kind, dass man solche Dinger nicht berьhren darf. Sie kцnnen explodieren. Wir haben es noch nicht geschafft, alle Kriegsreste zu beseitigen. Verstehst du jetzt?У

Sie verstand, dass sie im Begriff gewesen war, eine unheimliche Dummheit zu begehen. Sie hatte aber keine Angst empfunden und selbst wenn sie eine gehabt haette, dann verbarg sie ihre Angst vor ihm. So stand sie da, den Kopf schuldbewusst gesenkt, in Erwartung weiterer Anweisungen. Sie blickte auf ihre Fьяe. Da entdeckte sie eine schцne Muschel. Sie bьckte sich und hob sie auf.

 

ДFьr wen ist die?У, fragte er.

ДFьr meine Brьder.У

ДIch brauche auch welche. Fьr ein kleines Mдdchen. Los, sammeln wir welche.У

Sie war kurzsichtig, trug aber damals noch keine Brille, weil sie der Meinung war, sie stehe ihr nicht. Und selbst eine Muschel vor ihrer eigenen Nase konnte sie nicht erkennen. Er aber begann   ein Spiel, wer von  beiden  schneller etwas findet und natьrlich wer die schцnsten und die grцяten hat. Und wenn sie sich bьckte, um sich als erstes zu vergewissern, dass sie wirklich eine Muschel sieht, hielt er diese im gleichen Moment auch schon in seinen Hдnden. Siegesbewusst lachte er.

ДSo ist das nicht ehrlichУ, wandte sie schlieяlich ein und entfernte sich einige Schritte von ihm. ДJetzt sind die von mir entdeckten auch meine.У

ДNein, meineЕУ, er kam erneut angerannt, umfasste sie von hinten an den Schultern, um zu verhindern, dass sie die,  im Sand schimmernden, Muschel aufhebe. Als seine Arme ihre  Schultern  umschlungen, blieb er aufeinmal unerwartet wie angewurzelt so stehen.  Aber auch sie war plцtzlich erstarrt, angehalten durch seine Berьhrung. Kein bьcken, kein ДKampfУ um eine Muschel. Sie stand wie angemauert, blass, mit klopfendem Herzen. Er auch Ц  wie angemauert, mit klopfendem Herzen. Nahm die Hдnde von ihren Schultern und sagte dumpf: ДGehen wir ins Hotel zurьck. Bald wird es ganz dunkel sein.У

So gingen sie, schweigen, ohne ein Wort zu wechseln, ohne sich zu berьhren. Nicht mit den Schultern, nicht mit den Hдnden. Doch wдhrend des ganzen langen Weges ьbertrug sich zwischen ihnen, kommunizierenden Rцhren gleich, ein ihr vorher unbekanntes Gefьhl, als flцssen zwei Seelen zueinander. So, als wenn sie sich nicht mehr selbst gehцrte.

 

Im Hotel war der Abschiedsabend im vollen Gange. Bier, Musik, Tanz. Nur noch wenige Stunden und der Bus wьrde sie zum Bahnhof bringen und von dort der Zug nach Berlin.

Sie ging in ihr Zimmer und packte den Koffer. Auch er ging in seines, legte schnell die Sachen zurecht, um sie noch in ihrem Zimmer anzutreffen. Und zwar alleine.

Es gelang ihm. Als er die Tьr ihres Zimmers цffnete, war sie wirklich allein. Auf dem Boden war der gepackte Koffer zu sehen. Er hдtte jetzt zu ihr gehen kцnnen, er hдtte sie umarmen kцnnen, seine Lippen auf die ihren drьcken kцnnen. Das alles hдtte er tun kцnnen. Weil er es wollte. Aber er stand im Tьrrahmen und tat keinen Schritt zu ihr hin. Er tat eben das nicht, wozu es ihn mit aller Kraft drдngte. Er tat es nicht, weil er in ihren Augen Zweifel und Unsicherheit las. Es kam ihm wie ein Flehen vor.

ВSie ist noch ein richtiges Mдdchen Ц ich darf nicht zu ihr gehen. Das darf nicht seinТ, sagte er sich.

ДWollen wir in den Saal hinunter gehen und ein bisschen tanzen, wдre das was?У, schlug er in einem vдterlich klingenden Ton vor. ДDu hast wohl schon alles gepackt?У

Ja, sie hatte gepackt und sie hatte auf ihn gewartet. Und sie hatte sich sehnlich gewьnscht, dass er kдme. Und als er jetzt an der Tьr stand wollte sie, dass er zu ihr tritt. Gleichzeitig hatte sie aber Angst, dass das  unversehens Wunder in ihm schon erloschen ist. Und deshalb schaute sie fragend, verwirrt, unsicher und mit diesem Flehen. So stand er vor ihr unter der Tьr, stand und schaute auf sie. Und da sie ihre Brille nicht trug, sah sie den Blick seiner Augen nicht. Er stand und bewegte sich nicht. Dann soll es so sein. Vielleicht ist es so auch besserТ, dachte sie, nahm den Koffer in die Hand und ging mit ihm durch das dunkle schmale Treppenhaus hinunter in den Hotelsaal.

 

Sie waren gerade eingetreten, da hatte sie auch schon jemand zum Tanz aufgefordert. Sie nahm es gerne an und tanzte mit Leichtigkeit, lieя sich fьhren von diesem geschickten unbekannten Partner. Sie tanzte in sehr ausholenden Schritten,  erstmals in ihrem Leben. Er stand an einer Sдule gelehnt und beobachtete sie. Doch es war verhext: als er zum nдchsten Tanz auf sie zuging, um diese perfekte Tдnzerin fьr sich zu gewinnen, da  war ihre ganze №bermьtigkeit und Anschmiegsamkeit wie weggeblasen. In seinen Armen tanzte sie befangen und dermaяen ungeschickt und plump, wie sie es selbst nicht von sich kannte.

ДKomm, wir setzen unsУ, schlug er vor, als die Musik endlich verstummte und sie und ihn von der Quдlerei erlцste.

Sie setzten sich nebeneinander auf eine Holzbank mit einer Lehne, die hцher als ein Mensch war und sie vor den Augen derer abschirmte,  die tanzten oder  auf dem Weg zur Theke waren. Ihnen gegenьber saяen drei Mдnner am Tisch. Um sich die Zeit bis zur Busabfahrt zu verkьrzen, gaben sie sich ganz dem Genuss ihres Bieres hin. Der Kellner stellte auch vor sie beide ein Glas. Sie nippte daran, aber er rьhrte es nicht an. Er  wollte nicht trinken, er wollte ihr lieber viel von sich erzдhlen.

ДWie bis du ins ВLuxТ geraten?У, fragte sie ihn und schob das Bierglas beiseite. Sie hatte erstmals Bier gekostet und beschlossen, nicht mehr als diesen einen Schluck zu trinken.

 

Sofort und voller Emotionen sprach er zu ihr ьber Stationen seines Lebens, das kurz war, weil  seine ganze Jugend im Gefдngnis verloren  ging, und lang denn schlieяlich war er doch schon 32 Jahre alt, was in ihrer Sicht schon sehr viel war... Dreizehn Jahre saя er in nazistischen Folterhцllen und ein Jahr in einem russischen Kriegsgefangenenlager. Insgesamt also lebte er schlieяlich nur zwei Jahre in Freiheit, als freier Mensch, der fast schon vergessen hatte, dass das auch eine Lebensform sein kann. Als 18-Jдhrigen hatte man ihn ins Gefдngnis geworfen. Das war die Quittung dafьr, dass er in diesem Alter schon ein Kommunist gewesen war. Vor seiner Haftzeit hatte er noch nichts Nьtzliches tun kцnnen, weder im gesellschaftlichen, noch im privaten Leben. Rein gar nichts. Und nun trieb ihn die Eile, das Versдumte nachzuholen.  Und dafьr hatte er auch eine entsprechende Lebensphilosophie gefunden: beim Puschkinschen Pugatschow, der ein kurzes

Leben bevorzugte, wie ein Adler, der lebende Beute reiяt und nicht zu einem langen Leben verdammt ist, wie eine Krдhe, die sich von Kadaver ernдhrt. Und er fragte sogar, ob sie sich der Erwдgungen Pugatschows aus Puschkins Novelle erinnere. Er habe sie in der Gefangenschaft gelesen. Sie erinnerte sich. Literatur war ihr Wegbegleiter, da kannte sie sich aus, weit ьber den Stoff des Lehrplanes hinaus.

Er sprach konzentriert, hielt sich nicht mit Schilderungen seines Seelenzustandes auf. Kein Wort fiel ьber die durchlebten Leiden. Mitunter schwang ein feiner ironisierender Ton mit, wenn er ьber die dummen Seiten seines Schicksals sprach. Sie aber hцrte daraus: das ist ein starker Mensch. Selbst in seinem Bericht versucht er nicht, ihr seine Schmerzen aufzudrдngen. Nein, er umging sie. Dafьr erinnert er sich an  Lustiges und Lдcherliches in einer vergnьglichen, ja beinahe genussvollen Art.

 

Sie hцrte seine Worte und war in Gedanken die ganze Zeit bei ihm. Sie war ihm sogar so nahe, als wдre all das, was er durchgemacht hatte, ihr selbst geschehen. Selbst saя sie im Gefдngnis und auch an der Front war sie. In Gedanken zeichnete sie Bilder davon, die er gar nicht geschildert hatte. Er sprach und sie sog ein jedes seiner Worte auf, ohne ihn je zu unterbrechen, ohne auch nur zur Seite zu schauen. Sie vernahm ihn, wie Desdemona Othello hцrt, als Дsie ihn wegen der Qualen liebte und er sie wegen ihres Mitleids mit ihm.У

Seine Jugend war im Gefдngnis begraben, aber er trauerte ihr nicht nach. Vielmehr aber seiner 13-jдhrigen Untдtigkeit. In diesen endlosen Jahren konnte er nichts im Kampf gegen den Faschismus ausrichten. Das quдlte ihn.  Schlieяlich, ein Jahr vor Kriegsende, als Hitler den totalen Krieg verkьnden lieя, legte die Partei fest, dass ihre inhaftierten Mitglieder als Freiwillige an die Front gehen sollten. Das war die einzige reale Mцglichkeit, in die Freiheit zu gelangen und unter den deutschen Soldaten antifaschistisch tдtig zu werden. Das tat er dann auch, wobei er beschloss, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit an der Front zur Roten Armee ьberzulaufen, aber  mit Agitationsarbeit unter den Soldaten sofort anfangen. Aber es kam anders. In seiner Einheit gab es keinen Soldaten, der sich mit ihm auch nur unterhalten wollte. Schon gar nicht, um seine Erцrterungen ьber Krieg und Faschismus zu hцren. Man fьrchtete ihn einfach. Man wusste, er kam aus dem Zuchthaus und er war ein Freiwilliger. So wurde es nichts mit der Agitationsarbeit. Und die Front war weit weg, so dass an ein №berlaufen zur Roten Armee nicht zu denken war. So vergeudete er einige Monate, bis schlieяlich seine Einheit in die vorderste Linie kam. Er schwor sich, dass er keine einzigen Schuss gegen die Rote Armee abgeben und an einem Angriff nicht teilnehmen werde. Aber wie sollte das gehen? Zufдllig hцrte er ein Gesprдch ьber einen Kameraden in der Kompanie, der ein unheimliches Glьck hдtte. Immer wenn ein Angriff bevorsteht, beginnt er sich schwer zu erbrechen und das derartig, dass man ihn fьr einige Tage ins Lazarett bringt. Zum Neid der anderen Soldaten war er nicht ein einziges Mal an Kampfhandlungen beteiligt.

ДIch habe mich an das findige Bьrschchen herangemacht und gefragt, wie er das zustande bringt. ВFriss SeifeТ, gab er zur Antwort. Stell dir vor, ich habe ein ganzes Stьck von dieser widerlichen Seife gegessen Ц und was geschah? Nichts. Keine Wirkung.У

Sie lдchelte und stellte sich vor, wie er es aя und wie enttдuscht er von seinem eisernen Magen war.

 

ДUnd weiяt du, was auch noch schwer war? Den Moment abzupassen, um zur Roten Armee ьberzulaufen und nicht in die Hдnde der Partisanen zu fallen. Die haben nдmlich kein langes Federlesen gemacht und dich gleich erschossen. Das wussten alle. Und so ergab es sich, dass ich an den Kдmpfen teilnehmen musste.У

ДHast du geschossen?У, fragte sie дngstlich und hoffnungsvoll zugleich.

ДNein, ich schwцre dir, ich habe kein einziges Mal auf einen Menschen geschossen. Nur in die Luft. Natьrlich nicht allzu hoch, damit ich neben den Schieяenden nicht auffalle.У

Sie atmete erleichtert auf. Und sie war froh, dass man ihn nicht erwischt hatte.

Und dennoch konnte er eines Tages abhauen. Von niemandem bemerkt ging er  lange der anderen Frontlinie entgegen, zum anderen Schьtzengraben. Doch als er begriff, dass ein Weitergehen gefдhrlich sei, da man ja wegen seiner deutschen Uniform auf ihn schieяen kцnne, legte er sich mit der Waffe in der Hand in ein Gebьsch. Den Rьcken zur Roten Armee, das Gesicht in Richtung deutscher Graben. Fьr alle Fдlle, falls ein Angriff erfolgt. So fanden ihn sowjetische Soldaten. Den Kommunisten und №berlдufer, dessen erste Worte waren: ДIch bin ein Kommunist.У

Д Man wollte mich sofort in die Einheit stecken, die mich gefunden hatte. Darum hatte ich gebeten. Ich wollte gegen den Faschismus kдmpfen. Aber das war nicht mцglich. Diejenigen, denen ich mich ergeben hatte, glaubten mir. Sie wussten ja, dass ich von selbst auf ihre Seite ьbergelaufen war. Doch sie hatten kein Recht, mich bei ihnen zu lassen. So wurde ich ins Hinterland gebracht. Und je weiter  von der Front entfernt, desto weniger glaubte man mir. Man verhielt sich zu mir immer schlechter. ДWenn es in Gefangenschaft geht, seid ihr plцtzlich alle KommunistenУ, so oder дhnlich bekam ich es zu hцren. Und schlieяlich landete ich in Sibirien zum Bдume fдllen. Und da sagte ich mir: Вbeweisen, dass ich Kommunist bin, kann ich nur durch gute Arbeit. Nie zuvor hatte ich eine Sдge in der Hand, niemals hatte ich Bдume gefдllt. Na gut, das kann man lernen. Und wirklich, einige Monate spдter hat man mich nach Moskau geschickt zu einer Beratung der Fьhrung der kommunistischen Partei ьber die Arbeit mit Kriegsgefangenen. So kam ich ins ТLuxТ zur Beratung bei Pieck. So kam ich in dein Haus.У

Er schwieg und hing seinen Erinnerungen nach.

ДWeiяt du, was mir in Russland am meisten gefallen hat?  Die russische Schimpfwцrter und die russischen Frauen. In den ersten Tagen hatte mich eine mit einem Gewehr in einem Schuppen bewacht, nachdem ich gefangen genommen worden war. Und wir haben Blicke getauschtУ, sagte er und unterbrach damit das Schweigen, wobei er sie mit listig funkelnden Augen ansah.

Anstelle einer Antwort lдchelte sie.

ДKomm, gehen wir tanzenУ, sagte er und nahm ihre Hand. Mit Freude erhob sie sich. Aber als sie dann wieder zum Tanz gegenьber standen, war diese Gehemmtheit, die Angespanntheit wieder da und sie konnte keinen einzigen normalen Schritt tun. So viel war klar: sie konnte mit ihm nicht tanzen.

ДSie ist noch ganz und gar ein MдdchenТ, kam es ihm erneut in den Sinn. ВSo wie ich auch war, als sie kamen, um mich zu verhaften. Selbst ein Mдdchen hatte ich damals noch nicht gehabt.  Und sie? Ob sie einen Jungen hat? Wahrscheinlich nicht. Das ist schade.Т

Er beendete die unglьckselige Idee mit dem Tanzen und fьhrte sie zum Platz zurьck.

 

Jetzt fьhlte er eine groяe Mьdigkeit in sich. Das sagte er ihr und ohne lange nachzudenken schloss er die Augen und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. Und seltsam: sie, die so unzugдnglich beim Tanzen war, wehrte sich nicht, sondern machte eine fast unmerkliche Bewegung, damit er es gut und bequem habe. Da fuhr er plцtzlich auf: ДMдdchen ich habe gar nicht gewusst, dass du so weich bist.У

Sie hatte nicht verstanden, was er damit meinte, wollte aber nichts fragen. Behutsam, wie zu einem in den Schlaf gewiegtes Kind sagte sie: ДSchlaf schцn

Und er schlief ein, wenn auch nicht fьr lange, doch er schlief, erschцpft und beruhigt. Sie saя still und unbeweglich, um den leichten Schlaf eines Mannes, den sie erst drei Tage kannte, nicht zu gefдhrden,  ьber den sie aber unerwartet eine unmerkliche Macht fьhlte und dem sie unerwartet sich selbst unterzuordnen bereit war.

ДMдdchenУ, sagte er im Erwachen, Дim Bus nehmen wir die hintere Reihe und werden schlafenЕУ

Sie konnte gerade noch  zustimmend mit dem Kopf nicken, da setzte er schnell, lautlos und glьcklich hinzu: ДZusammen! Ich werde dich in meinen Arme nehmenЕУ

Er flьsterte zдrtliche Worte ihr ganz nahe ins Ohr, berьhrte dabei mit den Lippen ihre Haare, aber so, dass niemand von den gegenьber sitzenden Biertrinkern auch nur ein Wort hцrte und nicht die liebkosenden Berьhrungen sah.

 

Sie antwortete nichts. In ihr herrschten Ergebenheit und Wonne, Vertrauen und Liebe. Erneut war sie der Macht des Wunders  erlegen, noch mдchtiger, als dort am Meeresstrand.  Eine unwirkliche Strцmung trug sie irgendwohin, umhьllte sie , lieя sie die irdischen Grenzen ihres selbstbestimmten ДIchsУ unterspьlen. Jetzt wollte sie nur eines Ц dass die glueckseeligen Minuten sich in die Ewigkeit verlдngerten und dass niemand in ihrer Nдhe wдre, kein einziger Mensch. Doch rundherum tobte und lдrmte es, plдrrte Musik und irgendwer blickte bereits  mit  einem frechen Lдcheln in ihre Richtung. Doch das war ihr alles egal. Sollten sie gaffen, wenn es ihnen nicht peinlich war.

 Sie war allen  Neugierigen  entrьckt, schwebte in einer anderen Welt, in einer anderen Dimension. Und sie wartete auf den Bus, auf die Dunkelheit darin.

 

Doch der Bus kam nicht und so war ein Fuяmarsch zum Bahnhof angesagt und zwar schnellen Schrittes und konzentriert, um den Zug nicht zu verpassen. Und das mit einem Koffer in der Hand.

Sie war eine gute Lдuferin, ausdauernd und geschickt. Sie schritt gleichmдяig und bewusst, machte sich klar, was vor ihr liegt und teilte die Krдfte fьr die Kilometer und die Zeit ein. Und zum Glьck hatte sie bequemes Schuhwerk; amerikanische sportliche Lederschuhe mit niedrigem Absatz und krдftiger Sohle. Sie passten natьrlich nicht zu ihrem bordeaux-abgesetzten Seidenkleid mit den Spitzeneinsдtzen auf der Brust. Aber das stцrte sie nicht, zumal eine andere Mцglichkeit sowieso nicht bestand.  Die Halbschuhe waren die einzigen fьr Sommer und Herbst und das Kleid das eleganteste. Im Winter ging sie mit Filzstiefeln und einer dicken Strickjacke in die Universitдt und das war auch ihre einzige Kollektion. Als Mantel diente eine Steppjacke.  Jetzt war sie allerdings im Vorteil. Mit festem Schritt ging sie auf dem Waldweg und brauchte Wurzeln und Steine nicht zu fьrchten. Dafьr stolperte, stцhnte und дchzte Margot die ganze Zeit mit ihren Schuhchen und den hohen Absдtzen, schimpfte auf die Organisatoren, die sich nicht um den Bus gekьmmert hдtten. Margot wollte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie wollte, dass er sie bedauere. Aber der Adressat von Margots Bemьhungen bemerkte ihre kleinen weiblichen Listen nicht.  Er ging neben einer Anderen, mit der er ein Gespann bildete Ц in der Grцяe, in der hoch gewachsenen Gestalt; stark, widerstandsfдhig, ausdauernd. Wenn sie es gewollt hдtten, wдren sie allen anderen vorausgelaufen. Doch sie wollten nicht die Ersten sein. Wichtig war etwas anderes: zusammen gehen, zusammen sein.

 

ДDu hattest nicht gedacht, dass ich so weich bin. Was  hast du damit  gemeint?У, fragte sie im Gehen.

ДIch kann die Antwort nur geben, wenn ich ganz ehrlich binУ, sagte er ernst.

ДSei es

ДZu Anfang schien es mir, dass du noch ein  ganz junges  Mдdchen bis, plump und дngstlich. Und ich Dummkopf habe dich sogar geneckt. Aber jetzt weiя ich, selbst wenn du das verneinen wirst, dass du eine Frau bist.У

ДIch  werde es nicht verneinenУ, sagte sie kurz angebunden.

ДUnd eine sehr gute FrauУ, setzte er hinzu.  ДDas weiя ich.У

Seine Antwort freute sie. In ihr spiegelte sich Offenheit und das Vermцgen, in ihr tief Verborgenes zu sehen. Nдmlich das, was sie immer versteckt hatte.

Den Bahnhof erreichten sie in der Morgendдmmerung. Und wieder fuhren sie in dem Zug mit dem seltsamen Wagen, in dem es keine Sitzreihen gab, sondern die Bдnke an der Wand mit den Fenstern entlangliefen, so dass fьr alle alles sichtbar war. Und wieder saяen sie nebeneinander. Auch Margot plumpste neben ihm nieder. Gegenьber saя die  junge, ernste Frau mit ihrem Kind.

ДIch habe ja schon ein bisschen geschlafen, aber du wirst sicherlich mьde sein. Mach es dir auf meinem Schoя bequemУ, sagte er und zog sie an sich. ДIch decke dich mit meinem Mantel zu und du, mein Mдdchen, und schlдfst. Schlafe gut.У

Sie fьgte sich seiner einladenden Haenden und fьhlte sich in seiner Umarmung wie ein kleines Kind, das sanft in den Schlaf gewiegt wird.

ДSchlieяe die Augen, ich  schaukele dich in den Schlaf. Schlafe gut, mein kleines Mдdchen"

Sie drehte sich mit dem Rьcken gegen die gegenьber Sitzenden, schmiegte sich an seine warme Brust und versank in Ruhe und Glьck. Besorgt umhьllte er sie mit seinem  Mantel und unter dieser Zudecke umarmte er sie krдftig und zog sie an sich.

ДNun schlafe.У

 

Obwohl sie die Augen geschlossen hatte, vermochte sie nicht zu schlafen. Mit ganzer Leidenschaft und voller Wonne, wie Puschkin gesagt hдtte, trank sie durstig einen jeden Tropfen des unsдglichen Glьcks. Fьr sie gab es keine Menschen rings umher, keine, die neben und gegenьber saяen. Sie selbst war entschwoben zwischen Himmel und Erde. Langsam und sicher fand seine Hand unter dem Spitzenbesatz den Weg zu ihrer Brust, der kleinen Brust eines Mдdchens, das in der Kriegszeit herangereifte, und dort blieb die Hand stehen. Seine Hand liebkoste nicht. Sie sprach mit ihr. Sie sprach von seiner Zдrtlichkeit, ьbertrug die behutsame Beziehung zu ihr, zu ihrem Leben, zu ihrer Zukunft. Er verursacht ihr nicht den geringsten Schmerz, er wird sie behьten mit der ganzen Seele eines Mannes, eines liebenden, eines Liebe erweckenden. Vorsichtig fand sie seine Hand, deckte sie mit ihren Handflдchen noch fester  an ihre Brust. Er stцhnte. Leise. Aber sie hцrte es.

So verging eine Ewigkeit. Oder war es ein Augenblick? Sie wusste es nicht. Sie fьhlte, wie er seinen Kopf an sie schmiegte und flьsterte: ДWie ich jetzt mit dir auf einer Wiese liegen mцchte, zwischen Gras und Blumen, neben dir und  dich streicheln, streicheln, mehr als ich das jetzt kann, bei den Menschen hier. Wie ich das mцchte, oЕoЕo, wenn du das wьsstest.У

ДIch weiяУ, flьsterte sie zurьck und цffnete die Augen.

 

Er sah sie unverwandt an; flehentlich und gebieterisch gleichzeitig. Sie hielt seinem Blick stand. Mit weit aufgerissenen Augen ergab sie sich der einnehmenden Kraft seines Blicks.

ДSchau nicht soУ, befahl er heiser.

Gehorsam senkte sie fьr Sekunden die Lider, doch dann sah sie ihn sofort wieder an. Er betrachtete sie noch immer unverwandt, leidenschaftlich und dominierend, er lieя die Augen nicht von ihr.

ДDu hast doch gebeten, nicht so zu guckenУ, warf sie ihm unabsichtlich vor.

Д Ja, aber das ist doch so schцn  und soЕ gefдhrlich. Wenn du nur wьsstest, wie gefдhrlich es ist.У

ДIch weiя esУ, entgegnete sie und schloss erneut die Augen. Er atmete tief und zog sie noch fester an sich. ДBitte, schlafe.У

Sie rollte sich bequem auf seinem Schoя zurecht und schlief wirklich ein.

 

Jetzt war es an ihm, ihren Schlaf zu bewachen. Er saя unbeweglich da und lieя sein Leben vorьberziehen. Er, der die Freiheit als Lebensmaxime gewдhlt hatte, war in diesem Sinne nicht frei. Sowohl in Russland als auch in Deutschland hatte er viele Frauen kennengelernt und versдumte Genьsse eilig nachgeholt. Das stimmte schon. Aber auf die groяe Liebe hatte er keine Ansprьche, die Macht der Frauen war gefдhrlich. Aber dieses Mдdchen, das hier auf seinen Knien schlief, wird sein ganzes Leben vereinnahmen, das hatte er bereits verstanden.  Und selbst, wenn sie das nicht fordern sollte, so war er von sich aus bereit, ihr sein Leben zu widmen. Schon jetzt, wo er sie doch erst drei Tage kannte, war er ьberzeugt, sich nicht von ihr trennen zu wollen. Wenn er es sich aber erlaubt, sie zu lieben, mit aller Konsequenz zu lieben, was wird dann von ihm selbst bleiben?  Er darf sich eine solche Abhдngigkeit nicht gestatten. Nein, das darf nicht sein. Vor allem, und das ist die Hauptsache, wegen der Partei. Eben die Partei forderte seine ganze Person ohne Ausnahme, zumal er dreizehn Jahre, im Gefдngnis und an der Front, nichts fьr sie getan hatte. Jetzt war die Zeit gekommen, Versдumtes im Sinne seines Lebenszieles nachzuholen. Und das war die Pflichterfьllung vor dem Volk. Und eben fьr die Partei musste er sich absolut frei halten, um zu jedem Augenblick ihrem Ruf folgen zu kцnnen und den Platz einzunehmen, an den er gestellt wird. Aber mit diesem Mдdchen hier auf seinem Schoя: Wird er etwa damit fьr die Partei verfьgbar sein? Wenn ihm schon jetzt als hцchstes Glьck vorschwebt, eine ganze Nacht mit ihr zu verbringen, ganz nahe zu sein, ganz vereint Ц und das fьr immerЕ Und dass dieser Zustand von nichts und niemandem gestцrt werden mцge. Und wenn die Nдhe mit ihr sich erfьllte, wird dann das Persцnliche nicht wichtiger als das Gesellschaftliche? Wird er sich dann losreiяen, sich trennen kцnnen, wenn es erforderlich wird? Und wenn er das dann nicht mцchte, was ist er dann fьr ein Parteimitglied? Er muss vor dieser unerwarteten, noch unbekannten Liebe fliehen, bevor es zu spдt ist. O, Gott, bevor es zu spдt istЕ

 

Und zweitens ist er auch im persцnlichen Leben nicht frei, was er erst jetzt so richtig spьrte, wo er vor der unerwarteten Wahl stand. Nein, er liebt  jene Frau auf eine ganz andere Art. Jene Frau, in deren Wohnung er, der Unbehauste, von der Partei mit deren Zustimmung eingewiesen worden war.  Es war in den ersten Nachkriegswochen und sie war eine junge Witwe mit einem Kind. Und sie hatte ihm feierlich volle Freiheit zugesagt und versichert, dass sie ihn lediglich als Genossen der Partei sieht. Und nur als solchen.  Aber sie kam mit ihrem Versprechen nicht zurecht. Sie selbst war es, die es dazu brachte, und er weiя: niemand anders kцnne ihn so lieben wie sie. Doch er, der Undankbare, bereitete ihr so schon nicht wenig Kummer mit anderen Frauen und seiner Idee von der absoluten Freiheit. Die bestand auch darin, andere Frauen zu nehmen und wieder zu gehen, ohne sie mit dem Kind zu verlassen.

Er hatte auch kein Recht, sie zu verlassen, zumal er ihr Leben bereits durcheinander gebracht hatte, weil er seine Hдnde frei halten wollte, um seine Pflicht uneingeschrдnkt gegenьber der Partei zu erfьllen. Sie verzichtete darum auf das gemeinsame Kind mit ihm und sie konnte nun keine Kinder mehr haben. So war da nur das fьnfjдhrige Tцchterchen, das ihn liebte wie einen leiblichen Vater. Er ruinierte die ihn liebende Frau und ihre Zukunft. So eine Ergebenheit darf er doch nicht verraten, er kann doch nicht alles ьber Bord werfen.

Und das Mдdchen hier auf seinem Schoя. Es ist noch so jung und irgendjemanden liebt sie bestimmt. Das Glьck liegt noch vor ihr, sie beginnt doch erst zu leben. Und bald wird sie wegfahren. Vielleicht in einem Jahr? Gestattet er sich diese Liebe  nach einem Jahr?

ДDu wirst doch in einem Jahr wieder zu deinen Eltern kommen, nicht wahr?У, fragte er, nachdem er gespьrt hatte, dass sie erwacht war.

ДIch weiя es nicht, das ist alles noch unklarУ, antwortete sie wahrheitsgemдя und noch halb dem sьяen Schlafe ergeben.

Na also, nochmals wird sie vielleicht nicht  nach Deutschland kommen. Und er, der Dummkopf, erwдgt bereits nach drei Tagen Bekanntschaft, ob man nicht alles auf eine Karte setzen sollte, was das Leben absolut verkomplizieren wьrde. Er darf sie nicht lieben. Es darf nicht sein.

 

Doch alle inneren Beschwцrungsformeln halfen ihm nichts. Er nahm nicht die Hand von ihrer Brust. Er wollte hartnдckig erreichen, dass sie fьr immer mit dieser Vertrauensseligkeit, ihr ganzes Leben lang in seinem Schoя schlafe. Er war nicht in der Lage, das Glьck zu wenden, das ihn erfasst hatte.

Sie war ihm nahe, so nahe, wie niemand sonst. Aber es machte ihm Angst. Er verstand nicht, woher das Gefьhl der alles umfassenden Verbundenheit mit diesem Mдdchen kam, das er erst drei Tage kannte. Warum es ihn wie eine Lawine ьberrollte, die alle Schranken auf seinem Wege hinwegfegte, die er sich aufgestellt hatte. Woher kam diese Kraft ьber ihn Ц einen solchen der Freiheitslieber?

 

Und sie? Sie quдlte sich absolut nicht mit Gedanken an Vergangenheit und Zukunft, grьbelte nicht, was mцglich sei und was nicht sein darf. Sie war ganz gefangen in dem, was zwischen ihnen jetzt passierte, von der Kraft eines jeden Augenblicks, in dem sie sich treiben lieя, wohin es auch war. Aber nicht allein, sondern er und sie. Zusammen. Sie schwamm auf Wellen unbekannten Glьcks und sie wusste genau, dass das, was zwischen ihnen geschieht, heilig ist. Sie war in die Liebe eingetaucht. Ohne Bedenken lieя sie diese Wellen bis zum Hals steigen und ьber dem Kopf zusammenschlagen. Sie dachte nicht darьber nach, ob sie ertrinken oder wieder auftauchen wьrde. Sie genoss es einfach. War es die Jugend? Der Charakter? So viel wusste sie ьber sich noch nicht.

Sie streckte sich genьsslich und drehte sich auf den Rьcken.  Sie wollte sich erheben.

ДNein, bleib liegenУ, sagte er und war ьberzeugt, sie wьrde folgen. Д Sonst kann ich dich doch  nicht so streicheln, dass es die Anderen nicht merken.У Mit Freude blieb sie bei ihm auf dem Schoя. Den Versuch zum Aufstehen hatte sie nur unternommen, weil sie glaubte, nach dem Schlafen mьsse man aufstehen und er sei erschцpft, sie immer so zu halten. Doch das war er nicht. Und so war es auch herrlich. Sie wandte sich seinem Gesicht zu und schaute ihn an.

Gut sah er aus. Hellblaue Augen mit gelben Teufelchen drin, wenn er witzelte. So lustige, freche Teufelchen tanzen darin.. Und er hatte groяe, pralle Lippen deren  Geschmack sie noch nicht kostete, aber Sie versprachen Genuss.

Seine Haare waren klassisch hellblond und sehr, sehr weich Ц das sah man sofort Ц auch durchgehend seidig, aber das hatte sie auch noch nicht erfьhlen kцnnen.

ДWas guckst du so neugierigУ, interpretierte er ihren forschenden Blick.

ДIch mцchte dich mir einprдgenУ, antwortete sie.

 

Mit Bitternis dachte er, dass sie sich auch gedanklich von ihm entfernt. Aber was wusste er von ihr eigentlich? Nun ja, eine Studentin. Die Eltern, Politemigranten, wohnten in der UdSSR und waren jetzt heimgekehrt.

ДWartet in Moskau jemand auf dich?У, fragte er geradeheraus das wichtigste.

ДEs wartet jemandУ, entgegnete sie. ДEs wartet ein sehr naher Mensch auf mich und ich liebe ihn.У

ДWer ist er?У

Sie erzдhlte. Auch er ist Student. Frontkдmpfer. Am Bein verwundet. Artillerist. Offizier.

ДOffizier? Ich hasse Offiziere! Wie kannst du nur?У, rief er aus.

ДDu hast vergessen, dass er Offizier der Roten Armee und nicht der faschistischen ist. Es gibt keinen Grund, ihn zu hassen. Und ьberhaupt ist er Leutnant, also kein hoher OffizierУ.

Seine spontane Eifersucht legte sich.

ДWie lange musst du noch studierenУ, fragte er nun wieder etwas Wichtiges.

ДDrei Jahre.У

ДUnd dann kommst du nach Deutschland zurьck?У

ДJa.У

ДDas ist lange.У

Die Angst vor dem unvermeidlichen Verlust dieses Mдdchens fьr alle Ewigkeiten verlieя ihn. Er spьrte, es gibt keine grausame Notwendigkeit, bereits in ein paar Stunden fьr immer ade zu sagen, wenn der Zug erst Berlin erreicht haben wird. In seinen Augen zeichneten sich frцhliche Zьge  und er fragte verschmitzt und ernst zugleich: ДDu weiяt doch, wenn wir uns erneut treffen, dann wird das sehr gefдhrlich fьr Beide?У

Und wieder, im gleichen Ton, frцhlich und ernst zugleich, ergдnzte er, ehe sie mit dem Kopf nicken oder ernsthaft zu verstehen geben konnte, dass sie das weiя:

ДWann also? Wann werden wir uns in Berlin treffen? Nun?У

Er wurde von jenem №bermut erfasst, mit dem er sich Frauen nдherte. Jenen Frauen, die leicht und leichtsinnig zu haben waren und von denen man sich leicht trennt. Warum also auch mit ihr sich nicht fьr ein Mal treffen, um dann gleich auseinander zu gehen? Wьrde daraus etwa eine Tragцdie erwachsen? In seinen Augen tanzten freche Teufelchen.

Sofort dachte er daran, wie solch ein Treffen zu bewerkstelligen wдre. So schlug er vor, in zwei Tagen zu einer bestimmten Adresse zu kommen, um mit der Jugend in der Parteigruppe, die er leitet, ьber die Sowjetunion zu sprechen. Er wьrde sie dort empfangen und dann hдtten sie nachher Zeit.

ДWirst du kommen?У

ДIch komme.У

Fьr alle Fдlle gab er ihr seine dienstliche Anschrift und sie gab ihm ihre Wohnadresse.

Inzwischen waren an den Fenstern die Vororte Berlins aufgetaucht. Die ernste Frau mit dem Kind musste als Erste aussteigen und sie verabschiedete sich von den beiden, indem sie zu ihnen ging und zu der 19-Jдhrigen, die noch gemьtlich auf dem Schoя des Mannes lag, sagte: ДMдdchen, ich wьnsche dir Glьck.У 

Diese nahm das als Zeichen liebevoller Hinwendung auf, dankte der Frau und sah ihn erfreut an. Die Frau ging mit dem Kleinen zur Tьr. Er wandte sich ihr zu und sagte verwundert und glьcklich: ДDenkst du, als ich zur Konferenz fuhr, ich auch nur einen Minute daran gedacht hatte, dass so etwas mit uns passieren kцnnte? Ich ahnte es nicht einmal. Und jetzt das auf einmal ...У Er wunderte sich unentwegt, dass auf ihn so viel Glьck gekommen war, so unerwartet, ein so gar nicht geahntes, so ein groяes Glьck, das sogar fьr Andere offensichtlich wurde.

ДMein Gott, wie mцchte ich mit dir  ganz alleine sein!У

Und dann im ьberfьllt U-Bahnwagen konnte er  es nicht lassen sie an der Hand zu halten, mit den Lippen ihr wolliges Haar zu berьhren, er flьsterte ihr Zдrtlichkeiten ins Ohr, er fьhlte sie ganz und gar. Und sie genierte sich wieder nicht vor den um sie Herumstehenden. Als wдre es, wie es sein soll: einfach zu lieben, auch wenn alle dies sehen.

 

Zu dem von ihm selbst geplanten Treffen war er nicht gekommen. Den Frage-und-Antwort-Abend ьber die UdSSR gestaltete sie mit Begeisterung. Fьnf Freunde, die zu der Maяnahme der Parteigruppe gekommen waren, belagerten sie drei Stunden. Und sie betдubte den Schmerz ьber sein Nichterscheinen damit, dass sie immer noch hoffte, er wьrde hinter der Tьr auf sie warten. Jetzt habe er selbst noch etwas im gleichen Hause zu tun. Hier und gleich wьrde er hereinschauen, um ihr ausfьhrliches Gesprдch zu unterbrechen. Doch er kam und kam nicht. Sie musste nach Hause ganz allein.

Fьr sie vergingen danach zwei unwirkliche Tage. Sie verlieя ihr Haus nicht fьr eine Minute.. Immer wieder ging sie ans Fenster und sah auf die Straяe in der Erwartung, dass er jetzt gleich um die Ecke kommen wьrde. Schlieяlich wusste er doch, wo sie wohnt.

 

Am dritten Tag, ging sie zu seiner Arbeitsstelle. Sie цffnete die Tьr und sah mit ihren kurzsichtigen Augen, dass er am Tisch saя. Gott sei Dank. Sie verharrte, tat keinen Schritt. Alles in ihr war Erwartung.

Sein ganzes Wesen erstrahlte plцtzlich, er stьrzte auf sie zu und rьckte sie auf einen Stuhl. Seine groяen warmen Hдnde umfassten die ihren und er  streichelte jeden ihrer Finger. Er konnte  die Augen von ihr nicht wenden, und sagte immer nur das eine: ДУIch wusste, dass du kommen wirst. Ich wusste es.У

ДUnd wenn ich nicht gekommen wдre?У

ДAber du bist gekommen! Die ganzen Tage habe ich immer nur an die Tьr geblickt und gewartet, dass sie sich цffnet und du kommst! Und du bist gekommen!У

ДUnd warum bist du nicht zum Jugendtreffen gekommen? Konntest du nicht?У

ДNein, ich konnte. Natьrlich konnte ich. Aber ich hatte Angst. Wenn wir uns gestattet hдtten, uns zu lieben, wдre die Trennung noch schwerer gewesen, glaube mir. Du hast ein zu gutes Herz, du brauchst viel Liebe und du kannst selbst viel Liebe geben. Und es wдre fьr mich noch schlimmer, dich zu lassen. Bei dir wдre es nicht leicht, nicht so wie bei anderen Frauen. Habe keine Angst, bei keiner anderen wдre es mir peinlich, ihr danach in die Augen zu sehen. Doch bei dir ist alles anders. Ich kann mich nicht teilen und das wьrde allen viel Bitternis bringen.У

Er hatte nicht  vor ihr Angst, er fьrchtete um sich. Er fьrchtete sich vor seiner Sehnsucht nach diesem unbekannten und doch so nahen Mдdchen. Und erneut wiederholte er traurig und geknickt: ДIch hatte Angst. Aber wie habe ich auf dich gewartet! Jeden Abend auf dem Heimweg, jeden Morgen beim Erwachen, jede Stunde, die ich auf der Arbeit war. Ich habe gewartet.  Aber du wirst wegfahren.У

Jetzt, da sie erneut bei ihm war, da er ihre Hдnde in den seinen hielt, die Finger streichelte, die schlanken, die zerbrechlichen, aber auch krдftigen und so nahe war,  jetzt geriet sein fester Entschluss wieder ins Wanken. Nein! Er konnte sie nicht ganz und gar gehen lassen. Sie durfte nicht wegfahren. Das durfte nicht sein!

ДSagТ mal, kцnntest du in Deutschland bleiben? Wьrde man dir das erlauben?У

Д Ich kцnnte. Aber ich bleibe nicht.У Sie antwortete ohne nachzudenken. Ihre Worte klangen wie ein Urteil, wie selbstverstдndlich. Und sie hatte wirklich nicht vor, jetzt einfach so in Deutschland zu bleiben. Sie war dazu gar nicht bereit.

ДDu siehst es selbst. Wir dьrfen nicht zusammen bleiben.У Er sprach das aus, was er jeden Tag hartnдckig wiederholte, er musste  das unьberwindliche Verlangen, den heiяen Wunsch, dass sie von selbst doch kommen wьrde auslцschen.

 

Er hatte um sie getrauert und ьber sich nachgedacht in diesen zwei Tagen und dabei war ihm bewusst geworden, dass es in seinem Leben einen bestimmten Widerspruch gibt, ьber den er bis zu seiner Begegnung mit ihr noch keine Klarheit hatte. Die bittere Erцffnung war gefдhrlich und geheim, aber ihr wollte er das Geheimnis anvertrauen. Er vertraute grund- und grenzenlos diesem kaum bekannten 19-jдhrigen Mдdchen.

ДWeiяt du, was ich in diesen Tagen begriffen habe? Es zeigt sich, dass die Partei  ein Hindernis sein kann, Mensch zu bleiben. Sie kann in Menschen das Menschliche tцten. Aber wozu braucht man dann eine Partei, wenn sie dich kein Mensch sein lдsst?У

Er erklдrte nicht, was er meinte und sie musste auch nicht danach fragen. Sie war sich sicher, alles verstanden zu haben. Nicht umsonst hatte er dort im Zug immer wieder gesagt, wie erstaunt und froh er sei, dass sie sich im Geiste so дhneln. Sie las seine Gedanken und es genьgte ihr, das Ausgesprochene zu hцren.

Da trдumte er nachts von dem Mдdchen, das fьr ein paar Stunden auf seinem Schoя gelegen hatte, da dachte er ьber sein Schicksal nach und ьber die Bestimmung seines Lebens. Er, der nach Gefдngnis und Lager gerade erst die Freiheit gekostet hatte, verstand plцtzlich, dass seine innere Verpflichtung gegenьber der Partei und  seine Bereitschaft, die Liebe zu opfern, die Partei und deren Moral in eine bestimmte schreckliche Kraft verwandelte, die ьber ihm steht und sein Schicksal, seine Gefьhle und sein Handeln dirigiert. Eine solche Offenbarung flцяte ihm Angst ein. Wie kann es sein, dass er selbst auf das Glьck der Liebe verzichten muss, um andere Menschen glьcklich   zu machen? Ist das eine Notwendigkeit? Aber wenn es immer nur endlose Notwendigkeiten gibt, wo bleibt dann seine Freiheit?

Ja, und bei einem solchen Leben verkьmmert er doch. Wenn er mit Haut und Haaren als Funktionдr funktioniert und nicht auch als Mensch da  ist. Und eines solchen Lebens wegen hat er 13 Jahre Gefдngnis durchlebt? Welch ein Unsinn! Ohne jeglichen дuяeren №bergang und nur der Logik seines inneren Monologs folgend, fragte er:

ДVielleicht kommst du im nдchsten Jahr?У

ДDas  weiя ich nichtУ, antwortete sie. ДVielleicht erlaubt man es mir nicht. Ich bin schon jetzt mit hцchst zweifelhaften Papieren gefahren. Es sind meine endgьltigen Ausreisepapiere. Aber eigentlich bin ich ja nur fьr zwei Monate Ferien hier. Und so wie ich ist noch kein Kind von Politemigranten gereist, die noch in der  Union sind. Ich habe Glьck gehabt. Ich bin die erste und vielleicht auch einzige. Und erst im nдchsten Jahr werde ich sehen, ob man mich lдsst.У

 

Er begriff, dass ьber ihrem Leben auch eine Kraft stand; die Macht der staatlichen Organe ihres Landes. Sie war also auch nicht frei. Und jetzt mцchte sie nicht hier bleiben. Aber wenn er vergebens auf sie wartet, wird er nur seine Seele vergebens zerreissen.

ДAlles ist richtig, mein Mдdchen. Wir dьrfen nicht zusammen sein. Komm, ich begleite dich.У

 

Schweigend gingen sie bis zur U-Bahn. Schulter an Schulter.

Seine Hand, die immer noch krдftig ihre krдftigen Finger umfasste, versteckte er zusammen mit ihrer Hand, in seiner Manteltasche und nahm sie den ganzen Weg nicht heraus. Am U-Bahneingang trennte sie sich schweigend, ging die Stufen hinunter und dreht sich um. Da sah sie seine Augen: rufende, nicht loslassende, aber Abschied nehmende. Sie wandte sich schnell um, senkte den Kopf und rannte die Treppe hinunter, ohne sich nochmals umzusehen.

*****

Ihre Berliner Ferien neigten sich dem Ende zu. Bis zur unabдnderlichen Abreise hatte sie noch viel zu tun. Die Hauptfrage ob sie ьberhaupt nach Moskau zurьckkehren kцnnte, worauf die Mutter sie bereits an ihrem Ankunftstag warnend hingewiesen hatte, war  noch nicht geklдrt. Der Vater ьbernahm die Organisation ihrer Rьckreise auf sich. Der Angehцrige der sowjetischen Besatzungstruppen, der die deutschen Verlage betreute und mit dem Vater gute, freundschaftliche Beziehungen pflegte, kam dem deutschen Genossen zur Hilfe, damit seine Tochter zum Studienabschluss nach Moskau zurьckfahren konnte. Dieser Oberst fuhr nun mit ihr in einem Militдr-Jeep durch Berlin zu verschiedenen hohen Chargen und erlдuterte ihnen die auяergewцhnliche Situation. Seht mal, man hat ihr dummerweise Papiere zur endgьltigen Ausreise ausgestellt, aber sie muss doch ihr Studium an der MGU beenden. Helft doch bitte.

Dabei hatte sie noch nicht mal ihren Studentenausweis bei sich. Gemдя den Vorschriften hatte sie alle ihre Papiere im Safe des Schriftsteller-Aufklдrers deponiert: also ihren Inlands-Pass, das Komsomol-Buch und anderes. Aber sie war sich sicher, dass man sie trotz alledem nach Hause lieяe, absolut ьberzeugt war sie davon. Das war ьbrigens auch ihr Vater. Und so geschah es auch. Sie wurde schlieяlich mit allen mцglichen Unterlagen der sowjetischen Militдrkommandantur ausgerьstet und eine Fahrkarte am Militдrschalter fьr einen Wagen fьr sowjetische Offiziere wurde dann auch  gekauft. So packte sie ihren Koffer.

Aber  auch wдhrend ihrer Fahrten auf dem hohen Sitz des Militдrjeeps neben dem intelligenten und gutwilligen Oberst, der   die Schwierigkeiten und Hindernisse, die es auf dem Wege zu einer Rьckfahrt fьr sie gegeben hatte, von ihr  gar nicht verheimlichte, und wie sehr sie auch von den aufregenden Sorgen ihrer Reisevorbereitungen eingenommen wurde, vergaя sie doch in keiner Minute den, von wem sie sich am U-Bahnzugang getrennt hatte. Er lebte in ihr. Sie sprach die ganze Zeit mit ihm, hцrte zum hundertsten Male all das, was er ihr gesagt, was er ihr geflьstert hatte. Sie hцrte seine Stimme, fьhlte seine Hдnde. Seine Augen waren die ganze Zeit vor ihr Ц diese rufenden und Abschied nehmenden.

Aber sie ging nicht mehr zu ihm. Und er kam auch nicht zu ihr.

 

Unmittelbar vor der Abreise gingen Mutter und sie auf den Platz, den die Deutschen ДSchwarzen MarktУ nannten. Im Prinzip durften weder Mutter noch sie dorthin gehen.

Die Partei hatte ihren Mitgliedern den Besuch dieses ДZentrums der SpekulationУ verboten und Mutter war Mitglied der Kommunistischen Partei. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte den sowjetischen Bьrgern ebenfalls den Besuch dieses deutschen Marktes untersagt und ab und zu veranstaltete sie sogar Razzien nach ihren Soldaten und Offiziersfrauen Ц zur Schadenfreude der Deutschen, die ьbrigens vorzugsweise ihren Kram an die Russen verhцkerten. Die hatten viel Geld und bezahlten groяzьgig. Weder ihr noch der Mutter war es also erlaubt, dorthin zu gehen, aber sie gingen. Schlieяlich war es unmцglich, ohne ein Geschenk fьr Ilja nach Moskau zurьckzufahren. Und sie selbst brauchte dringend ein neues Nachthemd.

Sie hielten sich auf dem Markt nicht lange auf. Fьr zwei Schachteln Zigaretten tauschte sie einen blauen Wollpullover fьr Ilja und fьr eine Schachtel fand sich fьr sie ein rosafarbenes, mit kleinen Blumen besticktes seidenes Nachthemd.

Sie wandten sich gerade dem Ausgang zu, da begann, wie zum Trotz, eine Razzia. Alle Zu- und Abgдnge vom Markt waren augenblicklich abgesperrt. Und die zum Ausgang Strebenden mussten einen zweifachen Korridor passieren: die Deutschen durch die deutsche Kontrolle und die Russen durch die russische. Und zwischen den Reihen der Hдndler fischte eine Streife der sowjetischen Militдrkommandantur die eigenen Leute heraus, die auf den deutschen Trцdel erpicht waren. Unfehlbar fand die Patrouille die russischen Offiziersfrauen heraus, fьhrte sie auf die Straяe und verfrachtete sie auf einen offenen Lkw, mitten unter wegen irgendwelcher Sachen vorher festgenommenen Soldaten.

ДSieh mal, wie schnelle sie ihre eigenen Leute herausfischenУ, stellten die deutschen Hдndler verwundert fest, wдhrend sie gleichzeitig ihre Habseligkeiten zusammenrafften. ДWenn sie erst mal die Russen wegbringen, sind keine groяen Geschдfte mehr zu machen.У

Was sollten Mutter und Tochter tun? Es wдre eine unsдgliche Schande, auf einem offenen Lkw durch die Straяen ihres Bezirks als ertappte Spekulanten fahren zu mьssen. Allein schon diese VorstellungЕ

Also jetzt nur nicht den Markt verlassen und sich innerhalb aufhalten und nicht in die Ausweiskontrolle durch die sowjetische Patrouille geraten. Solange die Razzia lief, musste man warten. Irgendwann muss die doch ein Ende haben. So gingen Mutter und Tochter langsam und geschдftig durch die sich lichtenden Reihen der Straяenhдndler, besahen sich Sachen und unterhielten sich die ganze Zeit laut auf Deutsch, um damit die Aufmerksamkeit der sowjetischen Streifensoldaten von sich abzulenken. Wie lange sie wohl hin- und hergegangen sein mцgen? Lange, sehr lange. Und die Razzia hцrte einfach nicht auf. Schlieяlich hielten beide die Spannung nicht mehr aus und beschlossen, den Platz zu verlassen, komme wie es wolle. Letzten Endes hatten sie nichts Schlechtes getan und man wird das begreifen. Denn es waren doch Menschen und keine Tiere, die dort die Ausweise kontrollierten. Und so gingen sie schnellen, entschlossenen Schrittes zum Ausgang. Ihre Hдnde umfassten ihre aufgeklappten Pдsse.

Mutter hatte einen normalen sowjetischen Pass, sie galt noch als Sowjetbьrgerin. Die Tochter hatte einen roten Auslandspass. So einen, den einst Majakowski besungen hatte, dessen Umschlag aus roter Seide bestand und aufgeschlagen ein imponierendes, urkundenдhnliches Blatt mit goldenen, engen Buchstaben und einem gewaltigen Wappen zeigte. Solche Papiere, wie sie Mutter und Tochter besaяen, hatten die sowjetischen Soldaten und Offiziersfrauen damals nicht. Und zum Glьck wussten die beiden das. So gingen Mutter und Tochter gemessenen Schrittes zum

Doppelposten ans Tor und zeigten zunдchst mit nachlдssiger Gebдrde dem deutschen Posten ihre sowjetischen Papiere; aufgeschlagen, wie es sich gehцrte.

Der stellte sofort fest, dass die Damen nicht zu seiner Klientel gehцrten und gab mit einer Kopfbewegung seinem unweit an der anderen Seite des Ausgangs stehenden sowjetischen Kollegen zu verstehen, dass jetzt Leute von ihm kommen wьrden. Aber beide gingen am sowjetischen Posten eilig vorbei, sprachen laut deutsch und klappten blitzschnell ihre Ausweise zu, wobei sie den Kontrolleuren nur ihre roten Rьckseiten gleichgьltig zu sehen gaben, auf denen nichts zu lesen war. Der Posten war der Meinung, dass die Frauen irgendwelche deutschen Papiere hatten. Und so gelangten Mutter und Tochter ungeschoren ins Freie.

Die ganze Aktion hatten die beiden Frauen ohne vorherige Absprache und gleichzeitig auf dem Wege zum rettenden Ausgang ablaufen lassen und sich damit aus der Lage befreit. Auf der Straяe gingen sie schweigend am Lkw vorbei, der zur Hдlfte mit Festgenommenen gefьllt war. Sie atmeten erleichtert auf, als sie sich sicher fьhlten und dass der Kelch der Schande an ihnen vorьbergegangen war. Das einzige, das sie untereinander verabredeten, war, dem Vater von ihrem Abenteuer nichts zu erzдhlen, denn er war ein kategorischer Gegner des Schwarzmarktes und sie hatten schlieяlich seine Ermahnungen in den Wind geschlagen. Wozu sollte man ihn auch aufregen.

 

Schlieяlich lagen die Aufregungen der Abreise hinter ihnen. Es kam der Tag der Abfahrt. Der Koffer war mit diesem und jenem ergдnzt,  und gut gepackt und zugeschlossen. Sie konnte sich eigentlich zum Bahnhof aufmachen. Aber sie fand immer noch diesen oder jenen Vorwand, um das Verlassen des Hauses zu verzцgern. In ihrer Seele herrschte kein Frieden.

Sie fьrchtete, dass gerade heute derjenige zu ihr kommen kцnnte, auf den sie trotz allem immer noch  gewartet hatte. Dabei hatte sie sich selbst verboten, an einen nochmaligen Besuch auf seiner Arbeit auch nur zu denken. Jeden Tag hatte sie auf sein Erscheinen gewartet, denn schlieяlich wusste er, dass sie demnдchst abreisen wьrde.

 

 Bis zur letzten Minute schob sie das Verlassen der Wohnung hinaus. Deshalb hдtten Mutter, Vater und Tochter um ein Haar den Zug verpasst. Zum Schluss musste sie noch zu ihrem Wagen hetzen. Sie erreichte dessen Tьr, als der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. Vater konnte nur noch ДAuf Wiedersehen, meine Liebe!У rufen und das auf Deutsch. Daraufhin brьllte sie ein angeheiterter Offizier, der ihr eben noch galant mit ihrem Koffer in den Wagen helfen wollte, sogleich an: ДDas ist kein Wagen fьr Deutsche! Deutsche haben hier nichts zu suchen!У All das spielte sich noch auf der untersten Wagenstufe ab, der Zug gewann an Fahrt und sie sah noch die vor Schreck starrenden Augen des Vaters. Da haspelte sie gegenьber dem Betrunkenen kurz ihre Biografie auf Russisch herunter. Zwar rannte der abgehetzte Vater noch neben dem Wagen her, blieb aber mehr und mehr zurьck, da reichte der  Offizier ihr freundschaftlich die Hand: ДIch begrьяe Sie und in Ihrer Person den besten Vertreter der deutschen Jugend!У Und mit diesen Worten zog er sie in den Wagen hinauf.

Sie winkte dem Vater zu. Nun war wohl alles in Ordnung und sie konnte ihr Abteil suchen.

 

Hoch zufrieden und leicht schwankend trug der lustige Offizier nun ihren Koffer durch den schmalen Gang und sie amьsierte sich ьber den ihr verliehenen Titel ДBester Vertreter der deutschen JugendУ. Komisch, geradezu albern. Sie ist schlieяlich ein sowjetisches junges Mдdchen und er ein sowjetischer Offizier. So sah sie sich und so hatte sie sich in Berlin gefьhlt. Die deutsche Jugend und deren beste Vertreter lebten

in Deutschland, aber sie lebte in Moskau. Sie zдhlte sich der deutschen Jugend nicht zugehцrig, weder zu ihrem besten noch zu ihrem schlechtesten Teil. Obwohl sie eine Deutsche war und dies niemals geleugnet hatte, weder vor noch wдhrend des Krieges. Und so stand auch in ihrem Pass der Nationalitдtenvermerk ДDeutscheУ.

Sie war verwurzelt und aufgewachsen in Russland, in Moskau, in Stдdten und Dцrfern, in denen die Menschen russisch redeten, russische Lieder sangen, in ihren Scherliedern Unfug trieben. Sie konnte ьbrigens selbst diese kurzen Spottlieder in der Art der russischen Dorfmдdchen singen und selbst Strophen erfinden. Das hatte sie mit 17 Jahren beim Holzflцяen gelernt. Na ja, jetzt aber auf einmal Дbester VertreterУ.

Und da hatte  nun ihre deutsche Sprache bei der Verabschiedung von Vater und Mutter sie in einen ДVertreter der deutschen JugendУ verwandelt. In Deutschland hatte sie Russland vertreten Ц sie hatte den Deutschen, Verwandten, Bekannten, Freunden des Vaters und ihm ьber dieses Land berichtet. Und im Zug stellte sie in den Augen ihrer Reisegefдhrten nun Deutschland dar. Wдhrend der ganzen Reise war ihr Abteil voller Urlauber, also sowjetischen Offizieren. Und diese fragten sie nach den Deutschen aus. Alles wollten sie von ihr wissen. Wie stehen die Deutschen zu den Russen? Wьrden sie nochmals einen Krieg fьhren? Kцnnen sie sich von der faschistischen Ideologie befreien, von der Idee der deutschen Rassenьberlegenheit? Haben die deutschen Kommunisten Autoritдt?

Sie antwortete auf die Fragen und bewirtete die Nachbarn mit Mutters Koteletts und Kartoffelsalat. Und auf den Bahnhцfen liefen sie, die jungen beschwipsten Offiziere, nach heiяem Wasser fьr sie,  und genossen ihren Urlaub bereits schon im Zug.

ДDie Deutschen Frauen kцnnen gut wirtschaftenУ, berichteten sie ihr in dem Wunsch, etwas Angenehmes zu sagen.

 

So war sie wieder unter den Ihren. Ihre Fragen waren genau jene, die sie sich auf dem Weg nach Deutschland selbst gestellt hatte. Sie kannten die deutsche Literatur und Gedichte nach eben dem Schulstoff, aus dem auch sie ihr Wissen schцpfte. Sie hatten keinen Gran von sieghafter №berheblichkeit, sie waren groяzьgig und absolut neugierig: junge Menschen, die in ein fremdes Land geraten waren und die versuchten, die dortigen Menschen zu verstehen. Und sie trugen auch keine Rachegedanken in sich. Vielmehr, und das fand sie beachtenswert, erzдhlten sie ьber bekannte Fдlle von Vergewaltigungen und Marodieren voller Zorn und Bitterkeit. Dabei war ihnen, woher auch immer, viel Schlimmeres bekannt, als das, was ihr die Deutschen berichtet hatten. Mit Zustimmung hatten sie den Befehl der sowjetischen Fьhrung aufgenommen, die Todesstrafe bei Vergehen gegen die цrtliche Einwohnerschaft zu verhдngen. Sie wollten wahre Befreier sein und durch nichts befleckt. Die jungen Offiziere im Abteil waren Ilja дhnlich, waren wie ihre Kommilitonen Invaliden des Krieges, mit denen sie zusammen studierte. Keiner von ihnen brachte aus dem Kriege Hass gegenьber den Deutschen mit. Sie selbst waren die besten Vertreter der sowjetischen Jugend.

Und dann stellte einer, ein intelligenter und nachdenklicher Typ, ihr eine Frage, die ihr bisher noch niemand gestellt hatte, weder von ihren Verwandten noch Freunden des Vaters: УWie hat man sich im Krieg in der Sowjetunion ihnen gegenьber verhalten?У

Sie sagte, dass alles in Ordnung war. Nur ein einziges Mal wollte sie eine Frau in einem Sowchos, in dem sie mit ihrer Klasse zum Ernteeinsatz war, umbringen, weil sie erfahren hatte, dass sie eine Deutsche war.

ДDas ist ja furchtbar, wie schrecklichУ, rief der Fragesteller, der ihre Angst wohl durchlebte und sich vorstellte, dass sie das ertragen musste. Und er fьgte hinzu:

ДUnd trotzdem verzeihen sie ihr. Man muss sie verstehen.У

ДAber ich  war schon damals nicht beleidigt. Ich habe sie verstanden, obwohl ich ihr gegenьber natьrlich in keiner Weise schuldig war.У

Damals hatte sie noch keine Ahnung ьber die schreckliche Vertreibung der Sowjetdeutschen aus ihren Wohnorten. An ihr war dieses Schicksal ja vorbei gegangen. Und hдtte sie es gewusst, dann wдre es ihr nicht so leicht ьber die Lippen gekommen, dass alles in Ordnung war. Denn sie, die russischen Deutschen, waren auch nicht schuldig. Sie lebten seit zwei Jahrhunderten schon in Russland. Das war fьr sie die Heimat, die sie liebten und verteidigen wollten. Aber man schenkte ihnen kein Vertrauen.

Es hдtte den intelligenten Offizier in Schrecken versetzt, so wie sie auch, hдtte er von den Verbrechen an einer Reihe ganzer Vцlker in seiner eigenen Heimat erfahren. Und er hдtte es nicht verstanden und nicht entschuldigt. Aber sie wussten damals nichts davon. Beide lebten sie in Unkenntnis.

So kehrte sie nach Hause zurьck, umgeben von Menschen, die wie sie selbst dachten und fьhlten und die sie verstand und liebte. Eigentlich war sie schon  im Zug wieder zu Hause und nach drei Tagen wird sie schlieяlich in Moskau endgьltig daheim sein. Und sie fьhlte sich wohl.

 

So war es am Tage.

Aber als die Nacht kam und an der Decke nur das blaue Lдmpchen brannte, war sie in ihren Gedanken wieder im Schoя desjenigen, von dem sie sich nicht trennen wollte. Er wiegte sie in den Schlaf und drьckte sie krдftig an seine Brust. Sie sah ihm in die Augen, die forderten und die sich ergaben. Sie wollte zu ihm. Er hatte sie nicht verlassen, er lebte in ihr sein eigenes  Leben.

Und nicht das Glьck ьber das bevorstehende Treffen mit Ilja erfьllte ihre Seele in der Nacht, sondern die mдrchenhafte Wonne, die ihr der fremde und doch so nahe Mann geschenkt hatte.

 

Verдndert kehrte sie nach Moskau zurьck.

Sie hatte Ilja nicht ihren Ankunftstag mitgeteilt. Sie wollte nicht, dass er sie abholte.

Und dann, noch auf der Schwelle ihres Zimmers, als er ihr die Lippen darbot, hatte sie ihm sofort gesagt: ДKьsse mich nicht. Ich bin sьndig

Und sie erzдhlte Ilja von ihm.

Ilja hцrte ihrer Beichte  zu und sah ihr verliebt in die Augen.

Als sie mit ihrem Bekenntnis zu Ende war, umarmte er sie und sagte zдrtlich: ДIch freue mich fьr dich. Du hast viel erlebt und deine Seele ist gewachsen.У Und seine Worte lieяen nicht den kleinsten Schatten einer Eifersucht erkennen. Er sprach wie ein ƒlterer mit einer Jьngeren.

ДDas einzige, was mir weh tut, ist, dass die Frau in dir nicht mit mir zusammen erwacht ist. Aber das ist nicht  zu дndern. Und wir beide haben noch alles vor uns. Leg dich neben mich. Erhole dich. Ich habe dich sehr lieb. Ganz tief.У

Fьr Ilja war es schon ein Glьck, dass sie zurьckgekehrt und jetzt neben ihm war und nicht bei jenem anderen Unbekannten. Und die Hauptsache: Er liebte sie ьber alles in der Welt und das ьbrige wьrde sich fьgen. Er wird sie glьcklich machen.

Sie wollte Ilja dies glauben.

 

Und was war  mit jenem, den sie nur  drei Tage kannte?

Erst sechs Jahre spдter erhielt sie schlieяlich die Erlaubnis, wдhrend der Ferien ihre Eltern wieder  zu besuchen. Doch da war er schon nicht mehr in BerlinЕ

Aber er blieb auch so in ihr tief verankert: Sein Blick, seine Stimme, seine Worte, seine Qualen und seine Freuden. All das verschlingende glьckselige Gefьhl der Liebe, das sie gemeinsam erlebt hatten. All das war in ihr und hielt unendlich viele Jahre, eine Ewigkeit Е

Und sie selbst konnte sich nicht  die Frage beantworten, ob er nicht ihr Schicksal war, wenn Liebe wirklich im Himmel besiegelt wird.

 

Aber eines wusste  sie ganz sicher: ihr Leben mit Freuden und Leiden, mit Glьck und Unglьck, wдre ein ganz anderes gewesen als das, das sie in der Realitдt gelebt hatte.

Nicht in Deutschland und nicht gemeinsam mit ihm.

 

 

Copyright: Waltraut Schдlicke, 2003

Originaltitel ДBerlinskije KanikulyУ  (Sommer 1946)

Erstverцffentlicht in gekьrzter Fassung in ДNeues Leben, Nr. 21-22, 17.12.2001; Nr. 23-24, 27.12.2001; Nr. 1-2, 25.01.2002

№bersetzung der vorliegenden Fassung: Wolfgang Kroschel

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