Gruscha

Nach der Krankheit ging ich zunдchst lange nicht in den Kindergarten und in unserem Heim erschien Gruscha.

Gruscha war 1931 aus einem Dorf nach Moskau gekommen, ein absoluter Landmensch, noch dazu Analphabetin. Meine Mutter lehrte Gruscha lesen und schreiben, und an den Stellen im Zimmer, wo Gruscha den Schmutz ьbersehen hatte, schrieb sie ДGruschaУ in den Staub. Wenn Mutter zur Arbeit musste, bat sie Gruscha, im Zimmer nach ihrem Namen zu suchen. Abends berichtete Gruscha dann voller Freude von ihrem Fund.

Gruscha war keine junge Frau mehr und kleidete sich so, wie es auf dem Lande Brauch war: eine hьftlange Jacke, ein bodenlanger, sehr weiter, dunkler Rock, auf dem Kopf ein Dreieckstuch. So gewandet fьhrte sie mich auf dem Twerskoi Boulevard spazieren. Sie nahm wьrdevoll auf einer Bank Platz, und ich durfte nach Lust und Laune auf ihrem Schoя sitzen oder mit der Schaufel zu ihren Fьяen in der Erde buddeln. Im einen wie im anderen Falle machte Gruscha in aller Ruhe ihr Nickerchen, als gдbe es ringsum niemanden auяer uns beiden. Gruscha erholte sich auf dem Twerskoi Boulevard von ihrem Landleben. Ich stцrte sie dabei nicht und ging ihr auch nie auf die Nerven. Doch bei unseren Spaziergдngen brachte mich Gruscha jedes Mal ganz schцn ins Schwitzen. Es war nдmlich so, dass Gruscha unter ihrem riesigen Rock keinerlei Hosen trug, nicht einmal einen Schlьpfer. Fьr mich war das etwas Unerhцrtes, ein groяes, schreckliches Geheimnis, und ich hatte Angst, irgendjemand kцnnte auf dem Twerskoi Boulevard unversehens Gruschas Geheimnis lьften. Dann aber wьrde sie vor Scham sterben. Und gemeinsam mit ihr wьrde auch ich im Erdboden versinken. Aber Gruscha hatte vor solcher Art ДEnthьllungenУ nicht die geringste Angst und, o Schreck, manchmal, wenn sie Дeinmal mussteУ und es nicht mehr aushielt, suchte sie sich einfach einen Platz hinter der Bank, machte die Beine breit und Е.

 

Wie ich diese Minuten fьrchtete! Wie ich mich bemьhte, sie zu vermeiden! Ich versuchte dann, Gruscha nach Hause zu ziehen, bevor sie diese Дunschickliche SacheУ tun konnte. Doch ohne den geringsten Erfolg. Gruscha ging genau so lange mit mir spazieren, wie man ihr aufgetragen hatte, und  tat Дdas IhreУ, wann sie es musste. Sie war sehr ruhig und sehr ausgeglichen.

Gruscha liebte mich ohne viele Worte und leidenschaftslos, niemals gab sie mir einen Klaps, was ich auch angestellt haben mochte, ganz anders als Mutter.

Und Gruscha glaubte an Gott. Das wollte mir einfach nicht in den Kopf. Wie konnte man nur denken, dass in den Wolken irgendein lieber Gott lebte? Der musste doch von dort auf die Erde herunterfallen, weil man in den Wolken gar nicht sitzen konnte!

Ich versuchte, Gruscha meine atheistische Weltsicht nahe zu bringen, aber sie war unzugдnglich.  ДDer liebe Gott ist ьberallУ, erklдrte sie mir. ДUnd er sieht alles.Ф Weiter gedieh unser Streit nie. Ich sprach immer wieder von den Wolken, in denen man unmцglich leben konnte, und Gruscha von dem alles sehenden Auge Gottes. Ich verstand nicht, warum Gruscha sich von meinen Argumenten nicht ьberzeugen lieя. Und sie verstand nicht, wie ich leben konnte, ohne an Gott zu glauben. Doch unsere unterschiedlichen Auffassungen stцrten uns nicht.

Zu Ostern nahm mich Gruscha mit in die Kirche, ohne Wissen meiner Mutter. In der Kirche gefiel es mir. Es brannten so viele Kerzen, dass die ganze Luft nach Wachs duftete. Die vergoldeten Rahmen der Ikonen funkelten in mystischem Einklang mit dem flackernden Lichtermeer der vielen hundert Kerzen. Es waren viele Menschen dort. Sie alle standen unter dem schцnen, bunt bemalten Deckengewцlbe, still und feierlich, niemand drдngelte, ganz anders als beim Schlangestehen. Mehr vermochte ich von meiner kindlichen Warte aus zwischen all den Beinen rings um mich her nicht zu erkennen. Mich auf den Arm zu nehmen fiel Gruscha nicht ein. Sie war ganz in stummem Gebet versunken. Ich glaube, dass der цsterliche Kirchgang fьr Gruscha ein geheimes Mittel sein sollte, um mir Gott nahe zu bringen und meine unschuldige Kinderseele zu retten. Wenigstens auf diese Weise, wenn schon niemand Anstalten machte mich zu taufen.

Gruscha war sehr gutmьtig.

Doch dann verschwand sie aus meinem Leben, und ich ging wieder in den Kindergarten. Als ich erwachsen war, erklдrte mir Mutter die Trennung von Gruscha damit, dass ich mit meinen fьnf Jahren versucht hatte, Gruscha herumzukommandieren und dass Gruscha mir bedingungslos gehorchte. ДDu sagtest:  ВGib mir das, bring mir jenes.Т Und Gruscha tat es. Ich wollte aber nicht, dass du aufwдchst wie eine Prinzessin, die sich bedienen lдsst. So mussten wir Gruscha entlassen, obwohl das Leben fьr uns dadurch sehr viel schwieriger wurde.У

Gruscha musste gehen, weil sie so gutmьtig war. Dabei hдtte sie mir die Groяmutter ersetzen kцnnen, die ich nie bei mir hatte und die ein Kind wegen ihrer nachsichtigen, alles verzeihenden Liebe so dringend braucht. Das hat Mutter nicht verstanden. Oder hatte sie Angst davor bekommen?

Vielleicht war Gruscha aber auch deshalb entlassen worden, weil meine Eltern sich eine ДArbeitskraftУ einfach nicht leisten konnten und derartige Дbourgeoise AllьrenУ fьr sie auch nicht zeitgemдя waren.

 

In die Kirche bin ich danach noch oft gegangen, zusammen mit meinen Freundinnen aus dem ДLuxУ. Auf dem Puschkinplatz stand damals noch das Strastnoi-Kloster. Dort gab es eine Ikone der Gottesmutter, von der es hieя, sie kцnne Trдnen vergieяen. Wir sind dorthin gegangen, um den Moment abzupassen, da aus den Augen der Gottesmutter Trдnen flossen. In der halbdunklen Kirche starrten wir lange in das leidende Gesicht der Gottesmutter, unschlьssig, ob wir an das Wunder glauben sollten oder nicht.  Zugleich kam uns aber auch der Gedanke, dass es dort wahrscheinlich irgendeine raffinierte Vorrichtung gab, die von den Popen einschaltetet werden konnte, wenn sie glaubten, auf die Glдubigen Eindruck machen zu mьssen. Mitglieder der Gemeinde waren wir nicht, wir waren einfach nur neugierige Kinder. Und fьr uns hat die Gottesmutter niemals auch nur eine einzige Trдne vergossen.

Dennoch lieяen wir nicht davon ab in das Strastnoi-Kloster zu gehen. Es hдtte ja sein kцnnen, dass sie plцtzlich doch noch weinte.

Spдter wurde das Kloster abgerissen. Und jetzt steht dort das Filmtheater ДRossijaУ.

 

Waltraut Schaelike. "Ich wollte keine Deutsche sein".  Karl Dietz Verlag Berlin 2006

 

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